1874 schreibt der italienische König der Oper, Giuseppe Verdi, seine Messa da Requiem. Wird der Komponist plötzlich »seriös«, wie er selbst etwas spöttisch behauptet? Seine Messe wird weltlicher und dramatischer als üblich für das Genre – und gerade das macht sie so besonders.
Man mag es kaum glauben. Aber das 19. Jahrhundert, das doch für Fortschritt, Wissenschaft, Erfindungen und Revolutionen steht, leistete sich eine gnadenlos anachronistische Grundsatzdebatte über die »wahre Kirchenmusik«. Die sollte nach dem Willen der katholischen Kirche »nichts Unheiliges, nichts Weltliches, nichts Theatralisches« enthalten, was einer künstlerischen Kapitulationserklärung gleich kam. Der propagierte Rückgriff auf den gregorianischen Choral oder einen zeitlos erhabenen »Kirchenstyl« bedeutete nichts anderes, als dass der Künstler wieder in der Anonymität verschwinden sollte. Es lief auf eine Machtprobe hinaus: zwischen der Kunst und der Kirche.
1875, ein Jahr, nachdem Giuseppe Verdi seine Messa da Requiem vollendet und zur Uraufführung gebracht hatte, zog seine Frau Giuseppina Strepponi eine hellsichtige Bilanz der quälenden Diskussionen, die das neue Werk unweigerlich nach sich gezogen hatte: »Ständig wurde darüber gesprochen, ob diese geistliche Musik ihrem Wesen nach mehr oder weniger religiös sei, ob sie die überkommenen Vorstellungen von Mozart oder Cherubini befolgt habe etc. etc. Ich sage, dass ein Mann wie Verdi auch wie Verdi komponieren muss, das heißt nach seinen Empfindungen, nach seiner Auffassung der Texte. Und außerdem – wenn Religionen einen Anfang haben, eine Entwicklung, wenn sie Anpassungen und Veränderungen unterworfen sind etc., abhängig von den Zeiten und den Menschen, müssen dann nicht selbstverständlich auch der religiöse Geist und die Werke, die ihn bezeugen, den Stempel der Zeit tragen und (wenn Ihr so wollt) die Merkmale des Individuums verraten?«
Giuseppe Verdi selbst war der aufgezwungenen Debatte um die religiöse und musikalische Korrektheit mit Hohn und Spott begegnet, als er kurz vor Abschluss der Komposition in einem Brief vermeldet hatte: »Ich arbeite an meiner Messe, und sogar mit größtem Vergnügen. Mir scheint, dass ich ein seriöser Mensch geworden bin und nicht mehr der Hanswurst des Publikums, der auf die Pauke haut und ›Hereinspaziert, hereinspaziert‹ schreit. Ihr werdet verstehen, sobald ich jetzt von Opern sprechen höre, gerät mein Gewissen in Aufruhr und ich schlage schleunigst das Kreuzzeichen!! … Was sagt Ihr dazu? Seid Ihr nicht erbaut von mir?«
Im Juni 1875 stellte Verdi seine Messa da Requiem an der Wiener Hofoper vor, und diese vier Konzerte gaben dem »Kritikerpapst« Eduard Hanslick Anlass zu einer ins Grundsätzliche zielenden Werkbesprechung, in der wiederum die heiklen Fragen von Wahrheit, Kirche und Musik verhandelt wurden: »Verdi ist geborener Theater-Komponist; wenn er in einem Requiem beweist, was er auf fremdem Boden vermag, so bleibt er doch weit stärker auf seinem eigenen. Er kann auch im Requiem den dramatischen Komponisten nicht verleugnen; Trauer und Bitte, Entsetzen und hoffende Zuversicht, sie sprechen hier eine leidenschaftlichere und individuellere Sprache, als wir sie in der Kirche zu hören gewöhnt sind.«
Und Hanslick wählte zu Verdis Gunsten und Ehren ein Argument, das sich derart vertraut liest, als habe er den Brief Giuseppina Strepponis gekannt und zitiert: »Auch die religiöse Andacht wechselt in ihrem Ausdruck; sie hat ihre Länder, ihre Zeiten. Was in Verdis Requiem zu leidenschaftlich, zu sinnlich erscheinen mag, ist eben aus der Gefühlsweise seines Volkes heraus empfunden, und der Italiener hat doch ein gutes Recht zu fragen, ob er denn mit dem lieben Gott nicht Italienisch reden dürfe? Spricht aus einem modernen Kirchenstück ehrliche Überzeugung und ernste Schönheit, dann mögen wir uns zufrieden geben; die Frage nach der spezifisch kirchlichen Qualifikation wird täglich immer bedenklicher und haltloser.«
Verdi komponierte seine Messa da Requiem ohnehin nicht für die Kirche. »Im idealen, moralischen und sozialen Sinn war er ein großer Christ, aber man muss sich sehr wohl hüten, ihn in politischer und im strengen Sinn des Wortes theologischer Hinsicht als Katholiken hinzustellen«, erklärte Verdis Freund und Librettist Arrigo Boito nach dem Tod des Komponisten: »Nichts stünde in größerem Widerspruch zur Wahrheit.«
Die Idee oder die Motivation des Requiems, das Verdi schuf, lassen sich weder im christlichen Bekenntnis noch gar in der katholischen Konfession entdecken. Es sind durchaus andere Wahrheiten, die Verdis Totenmesse bezeugen will: die Autorität des Künstlers, die kulturelle Größe der italienischen Nation, ihre Einheit und Freiheit. Aber ebenso die menschliche Würde im Angesicht einer niederschmetternden Übermacht, einer namenlosen Furcht, eines drohenden Strafgerichts.
Der historische und ideelle Ursprung des Requiems erschließt sich nur in Verdis Absicht, den »Ruhm Italiens« zu verherrlichen, eine patriotische Gedenkfeier zu initiieren – dieses Vorhaben verfolgte und bekräftigte er in einer erstaunlichen Duplizität der Ereignisse. Denn die Geschichte des Requiems beginnt ein erstes und ein zweites Mal. Am 13. November 1868 starb Gioacchino Rossini: »Ein großer Name ist aus der Welt entschwunden!«, klagte Verdi. »Niemand in unserer Zeit genoss einen so hervorragenden Ruf und eine solche Popularität.«
In dieser historischen Stunde, im aufgeheizten Klima des Risorgimento, der italienischen Einigungsbewegung, trug Verdi seinem Mailänder Verleger Tito Ricordi den Gedanken vor, am ersten Todestag Rossinis ein Requiem uraufzuführen: eine römisch-katholische Missa pro defunctis, die Verdi allerdings nicht allein, sondern als Gleicher unter Gleichen in einem brüderlichen Gemeinschaftswerk italienischer Musiker komponieren wollte.
Der äußerst ungewöhnliche Plan wurde tatsächlich von insgesamt 13 Komponisten in die Tat umgesetzt: Verdi selbst vertonte das abschließende Responsorium »Libera me«, für das er eine besondere Vorliebe eingestand. Am 17. August 1869 berichtete er Ricordi: »Mein Stück ist vollständig beendet und in Partitur gesetzt. Es bleibt mir nur noch, es zu instrumentieren, und das ist eine Sache von Stunden.« Die erhoffte Uraufführung der Kollektivkomposition zu Ehren Rossinis jedoch geriet zu einer Sache von Jahren und Jahrzehnten: Erst im September 1988 wurde das Requiem »in onore di Gioacchino Rossini« der musikalischen Weltöffentlichkeit vorgestellt, in einem Konzert der Stuttgarter Bachakademie.
Verdis idealistisches Vorhaben, den Todestag eines großen Italieners mit einer tiefen musikalischen Ehrbezeugung zu feiern, war (aus durchweg banalen menschlichen und bürokratischen Hinderungsgründen) vorerst gescheitert – aber nicht unwiderruflich verloren. Denn im Jahr 1873 trat das zweite historische Ereignis ein, der zweite Anfang für das Requiem, als am 22. Mai der italienische Dichter Alessandro Manzoni starb, der Autor des epochalen Romans Die Verlobten, ein »Muster der Tugend und des Patriotismus«, wie Verdi schwärmte, der seinen berühmten Landsmann wie einen Heiligen verehrte: »Ich wäre vor ihm niedergekniet, wenn man Menschen anbeten könnte«, hatte Verdi nach einer Begegnung mit Alessandro Manzoni im Sommer 1868 gestanden.
Mit dem Tod Manzonis schien ihm die Komposition einer Totenmesse wieder dringend »nötig« und patriotisch geboten. Für den ersten Todestag des »heiligen« Don Alessandro vollendete Verdi die Messa da Requiem: als eigene, nicht mehr als gemeinschaftliche Partitur, die aber aus dem Ursprung und der Urfassung des »Libera me« von 1869 entstand. Pünktlich am 22. Mai 1874 leitete Verdi in der Mailänder Kirche San Marco die Uraufführung, der sich noch im selben Monat drei Vorstellungen im Teatro alla Scala anschlossen. Und in der Oper wie im Konzertsaal fand diese Messe alsbald ihre musikalische Bestimmung und institutionelle Heimat, als eine an kein Datum, keinen Anlass, keinen Todesfall gebundene Komposition, eine Kirchenmusik ohne Kirche: das Requiem für Manzoni, das längst nur noch als »das Verdi-Requiem« bezeichnet wird. Nicht von ungefähr.
Verdi komponierte dieses Requiem, wie es Verdi komponieren musste. Ein »Hanswurst«, ein »geborener Theater-Komponist«, ein in Deutschland zuweilen belächelter »Leierkastenmann« sprach in seiner Sprache über Todesangst und Weltuntergang, menschliche Trauer und göttliche Strafe, über Abschied und Ewigkeit. Welche Schlüsse lassen sich daraus ziehen? Alle bis auf einen: dass nur ein Italiener mit dem lieben Gott Italienisch reden könne.
Gerade die Vorgeschichte und patriotische Mission des Verdi-Requiems könnte zu diesem Missverständnis verleiten. Doch abgesehen davon, dass selbst die legendären Requiem-Aufführungen mit Verdis Landsleuten wie Victor de Sabata, Arturo Toscanini oder Carlo Maria Giulini mehr trennt als sie eint, waren einige der aufwühlendsten und musikalisch radikalsten Interpretationen der letzten Jahre gerade den außeritalienischen Maestri zu verdanken, namentlich Sir John Eliot Gardiner, Valery Gergiev oder Teodor Currentzis.