Anton Bruckner, ein frommer Mann aus einfachen Verhältnissen vom Land, blieb zeitlebens ein Außenseiter in der feinen Gesellschaft Wiens. Die vielen Anekdoten über sein seltsames Verhalten erschweren eine objektive Beurteilung seines Charakters. Wer war Bruckner und was trieb ihn an? Eine Spurensuche.
Mit einem »Stein vom Mond« hat der der Dirigent Nikolaus Harnoncourt einmal Anton Bruckner verglichen. Förmlich »in die Musikgeschichte hineinexplodiert« sei dieser Komponist, »man hat bei ihm das Gefühl, er habe keinen Vorgänger und keinen Nachfolger.« Obwohl der Eindruck künstlerischer Alleinstellung streng genommen nicht zutrifft – schließlich hat Bruckner viel von Richard Wagner und Franz Liszt gelernt und später einigen Einfluss auf Gustav Mahler ausgeübt –, scheint sich die Musik des Oberösterreichers tatsächlich aus ganz eigenen Quellen zu speisen. Wer war dieser Mann, der so faszinierende und zugleich befremdliche Symphonien komponiert hat? Was lehrt die Biografie über seinen Charakter – und wie schlägt sich dieser Charakter in den Partituren nieder?
»Leben und Werk verraten nichts voneinander«, behauptete Karl Grebe noch 1972 in einer viel rezipierten Monografie über Bruckner: »Das Leben sagt nichts über das Werk aus, das Werk nichts über das Leben.« Sollten wir uns also an die Musik halten – und das Biografische strikt davon treffen? Vorsicht gegenüber simplen Parallelisierungen scheint tatsächlich geboten, weil zu Bruckners Leben aus der Zeit seiner höchsten Produktivität nur wenige Briefe, Tagebücher und zeitgenössische Berichte erhalten sind.
Bruckner war kein Intellektueller, der mit bedeutenden Persönlichkeiten korrespondierte, der geistige Interessen pflegte oder sich in aktuelle Debatten einschaltete. Er war und blieb ein frommer Mann vom Land. Zeitlebens behielt er den Dialekt seiner Heimat bei. Er kleidete sich altmodisch und wenig vorteilhaft, pflegte strenge Gebetsrituale und fühlte sich in der ungezwungenen Atmosphäre eines Bierlokals viel wohler als in eleganter Gesellschaft.
Bruckner wurde zum Problem für Biografen, weil über seine sonderbare Erscheinung und sein nicht minder eigentümliches Verhalten eine große Fülle von Anekdoten in unterschiedlich ausgeschmückten Varianten seit jeher im Umlauf ist, in denen Wahrheit und Fiktion auf kaum zu entwirrende Weise ineinander verknäult sind. »Halb Genie, halb Trottel« – das grausame Urteil von Hans von Bülow, dem ersten Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker, lädt dazu ein, den epochalen Künstler Bruckner gegen die vermeintlich einfältige Person gleichen Namens in Schutz nehmen zu wollen.
Schon in den Nachrufen von 1896 dominierten Klischees das Charakterbild des Komponisten. Bruckner wurde zu einer Art Projektionsfläche, die alle denkbaren Mystifizierungen zuließ. Der Mythos vom »einfachen, unverbildeten« Landmenschen prädestinierte ihn zum Gegenmodell einer seelenlosen modernen Zivilisation, die angeblich den Kontakt zu den echten, ursprünglichen Kräften des Volkes verloren habe.
Ideologische Vereinnahmung lag da nahe: Die Folge der Stereotypen reichte vom »Musikanten Gottes« über den »mystischen Bauersmann« bis zum »deutschen Ton-Heros« der Nazis, wie ihn Joseph Goebbels 1937 anlässlich der Aufstellung einer Bruckner-Büste in der Gedenkstätte Walhalla bei Regensburg feierte.
Alles Anekdotische im Interesse wissenschaftlicher Objektivität auszublenden, wie es der Zeitgeist der 1970er-Jahre nahelegte, scheint heute indessen keine Option mehr zu sein. Allzu viel Wissen um die psychische Disposition des Komponisten bleibt dabei auf der Strecke. Dass Bruckner ausgesprochen ungeschickt im Umgang mit Frauen war, dass er eine besonders devote Haltung gegenüber Autoritäten an den Tag legte, eine spezielle Faszination für Hinrichtungen und den Tod empfand und eine eher derbe, beinahe tumbe Ausstrahlung gehabt haben muss: Darin besteht weitgehend Übereinstimmung unter den Zeitzeugen.
Dass sein wenig geschmeidiger Habitus ihn in Wien zum Sonderling stempeln musste, war Bruckner offenbar klar. Die gegenwärtige Forschung debattiert darüber, inwiefern der Komponist seinen Außenseiter-Status in Kauf genommen und möglicherweise sogar kultiviert haben mag. In seiner neuen Biografie relativiert der Musikwissenschaftler Felix Diergarten eine ganze Reihe bizarrer Verhaltensweisen mit Hinweis auf ganz praktische Umstände beziehungsweise alltägliche Motive.
Die weite Kleidung mit den stets zu kurzen Hosen? Sie sei auch Bruckners Neigung zum Schwitzen und dem Bedürfnis nach Beinfreiheit beim Orgelspiel geschuldet. Das Image des unbeholfenen Kauzes? In gewissen Kreisen könnte es mehr genutzt als geschadet haben, so Diergarten. Jedenfalls existieren Schilderungen, nach denen Bruckner seine lebhafte Mimik vor dem Spiegel zu üben pflegte. Und auch der autoritätshörige Untertan Bruckner, dessen altmodisch-unterwürfiger Ton in seinem Umfeld unangenehm auffiel, wäre demnach ein »aus Einsicht in die Mechanismen eines Machtgefüges« handelnder Aufsteiger, der ohne Skrupel tut, was ihm den Weg zum Erfolg ebnen könnte.
Aber längst nicht alle Seltsamkeiten von Bruckners Sozialverhalten in Wien dürften kalkuliert gewesen sein. Viele rührten von einer mangelnden Angepasstheit eines in ganz anderen Gegebenheiten aufgewachsenen Bürgers her. Während seine Kindheit noch von den ländlichen Strukturen des Spätabsolutismus des 18. Jahrhunderts geprägt war, findet sich der zum Zeitpunkt der Übersiedlung bereits 44-Jährige in Wien ab 1868 in einer dynamischen Beinahe-Millionenstadt wieder, die mit der Anlage der Ringstraße soeben ihr imposantes modernes Gesicht bekommen hat.
Seiner Herkunft entsprechend erlernte Bruckner zunächst den Beruf des Schullehrers, den vor ihm schon sein Großvater und sein Vater ausgeübt hatten. Das Amt des Lehrers war in Österreich seinerzeit mit dem des Kirchenmusikers verbunden, deshalb begann Anton schon als Knabe mit dem Orgelspiel und erhielt ersten Generalbassunterricht. Der Aufstieg eines unter bedrückenden Umständen wirkenden Dorfmusikanten zum Universitätsdozenten und Schöpfer anderthalbstündiger Symphonien, die im Wiener Musikverein aufgeführt werden: Es ist die Geschichte eines vollständigen Milieuwechsels, der nur aufgrund von gründlicher Förderung, beharrlichem Fleiß und dem unerschütterlichen Glauben an die Kraft der eigenen Sendung überhaupt möglich war.
Der Musikwissenschaftler Laurenz Lütteken hat beeindruckend dargelegt, wie der nach Anerkennung gierende Bruckner sich wahllos und ohne jede Logik um unterschiedlichste Posten bewarb. Zwischen den immer noch parallel bestehenden höfischen und bürgerlichen Hierarchien verlor er dabei offenbar immer wieder den Überblick. Hauptantrieb seines Ehrgeizes war das Bedürfnis, sich über öffentliche Ämter den materiellen Rückhalt zum Komponieren zu sichern – und sich darüber hinaus um berufliche Pflichten oder Kontaktpflege nicht kümmern zu müssen.
Dies führte dazu, dass er in vielen Fällen gar nicht den Versuch unternahm, die entsprechenden sozialen Codes zu verstehen und sich der erstrebten Lebensweise wirklich anzupassen. Der »Stein vom Mond«, das war ein Mann voller Widersprüche: Ein frommer Katholik, der weit mehr Symphonien schrieb als Kirchenmusik. Ein Wagnerianer, dem die Musik des Bayreuther Meisters den Weg zum eigenen Personalstil gewiesen hatte, während er das Konzept des Musikdramas kaum verstand. Bruckner starb als international anerkannter Komponist in Wien – und wollte doch daheim in St. Florian beigesetzt werden. Gut möglich, dass seine musikalische Vision eben doch nicht ganz von dieser Welt war
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