Der polnische Komponist Witold Lutosławski gehörte zu den faszinierendsten Musikern seiner Zeit. Eine spannende Wiederentdeckung.
Kaum uraufgeführt, schon wieder verboten. Witold Lutosławskis Erste Symphonie, noch vor dem Zweiten Weltkrieg begonnen und 1947 fertiggestellt, gehört zu jenen Werken, deren Rezeption eng mit den politischen Entwicklungen in Polen gesehen werden muss. Nach der Gründung der Volksrepublik 1944 und dem Ende des Zweiten Weltkriegs entstand in dem Land ein kommunistisch regierter Staat nach sowjetischem Vorbild. Das betraf auch das kulturelle Leben.
Solange sich das kommunistische Regime in Polen formierte, konnten die Künstler in den ersten Nachkriegsjahren noch frei arbeiten. Doch ab 1949 galt auch für sie die Doktrin des sozialistischen Realismus. Witold Lutosławskis Erste Symphonie, die 1948 von Grzegorz Fitelberg und dem Symphonieorchester des Polnischen Rundfunks in Kattowitz mit großem Erfolg uraufgeführt und als »erste wahre Symphonie seit Szymanowski« gefeiert worden war, passte nicht in das Konzept der neuen Machthaber.
Nachdem das Werk 1949 beim Eröffnungskonzert des Chopin-Wettbewerbs erklungen war, mokierte sich – so wird berichtet – der damalige polnische Kultusminister: »Solche Komponisten wie Lutosławski sollte man vor eine Straßenbahn werfen.« Die Symphonie wurde als »formalistisch«, also nicht dem sozialistischen Geschmack entsprechend, verschmäht und aus den Konzertsälen verbannt.
Als sie zehn Jahre später mit einer Aufführung unter Leopold Stokowski in der Warschauer Philharmonie ihren Weg ins polnische Konzertleben zurückfand, hatte sich die Situation gewandelt – sowohl politisch, als auch in Lutosławskis eigener Ästhetik. So war nach dem Tod Stalins das Leben auch für polnische Kulturschaffende inzwischen wieder weniger restriktiv; Lutosławski hatte sich als Komponist weiterentwickelt und experimentierte inzwischen mit seinen Techniken der »kontrollierten Aleatorik« und des »aleatorischen Kontrapunkts«.
Die westlichen Konzertveranstalter nahmen Lutosławski als Vertreter der polnischen Avantgarde wahr und interessierten sich vor allem für seine neueren Stücke. Die Erste Symphonie, obgleich rehabilitiert, stand bereits für eine überwundene Phase des Komponisten und fand daher wenig Beachtung.
Das spiegelt sich auch darin, dass die Berliner Philharmoniker erstmals 1960 überhaupt ein Werk des Polen spielten, seine zwölftönige Musique funèbre für Streichorchester. 15 Jahre später aber stand Lutosławski dann selbst am Pult des Orchesters und dirigierte einen Abend mit eigenen Kompositionen, die alle in den 1960er-Jahren entstanden waren.
Zwischen ihm und den Berliner Philharmonikern entwickelte sich eine künstlerische Freundschaft; bis Mitte der 1980er-Jahre kam er regelmäßig nach Berlin, um eigene Werke zu dirigieren. Als Dirigent besaß Lutosławski eine bezwingende musikalische Autorität, sein Auftreten war – so die Presse – »aristokratisch« und »leidenschaftlich« zugleich. Er wurde in Berlin als »Klassiker der Avantgarde« gefeiert.
Seine Erste Symphonie nahm er erst sehr spät in ein philharmonisches Programm auf: Im März 1981 dirigierte er sie zusammen mit seinen Fünf Liedern (in der Fassung für Frauenstimme und Kammerorchester) und dem Cellokonzert Mi-parti. Es blieb die bislang einzige Aufführung der Symphonie durch die Berliner Philharmoniker.
Lutosławski stand seinem symphonischen Erstling durchaus kritisch gegenüber – und das nicht erst mit dem Abstand einiger Jahre, sondern bereits während der Entstehung. So gestand er in einem Interview: »Interessanterweise fühlte ich gerade während der Arbeit an meiner Ersten Symphonie, die ja als formalistisch abgestempelt worden war, dass ich mich in einer Sackgasse befand, dass ich mich in dieser Richtung nicht weiter entwickeln könnte, dass ich etwas für mich Neues schaffen müsse.
Meine Erste Symphonie war der wahre Ausdruck meiner damaligen Ästhetik und darüber hinaus eine ganz ›emotionale‹ Musik. Wieso dann ›Sackgasse‹?« Lutosławski empfand, dass nicht nur das tonale System, sondern auch sämtliche Ansätze seiner Überwindung an einen Endpunkt gelangt wären und keine Entwicklungsperspektiven mehr böten. Es drängte ihn danach, eine neue Organisation des Klangmaterials zu finden. Die Erste bildete für ihn Endpunkt und Aufbruch zugleich.
Formal gesehen kommt das Werk in seiner viersätzigen Anlage und seiner Art der Themenbehandlung ganz aus der Tradition der klassischen Symphonie. Anlässlich der Berliner Aufführung 1981 schreibt der Musikkritiker Hans Heinz Stuckenschmidt: »In der Tonsprache strebt Lutosławski von der Tonalität weg, ohne sie zu überwinden. Bei ihm verbinden sich konservative mit entwickelnden Zügen, was mitunter eine stilistisch schwankende Position zur Folge hat.«
Was beim ersten Hören sofort auffällt, ist die meisterhafte, farbenprächtige Orchestrierung, das klangsinnliche Spiel einzelner Instrumente und Gruppen, die sich eindeutig an den französischen Vorbildern von Claude Debussy und Albert Roussel orientieren.
Doch auch die Einflüsse von Igor Strawinsky, Béla Bartók und Sergej Prokofjew sind erkennbar. In der Literatur über Lutosławski wird oft darauf verwiesen, dass der Komponist darin die Schrecken des Krieges musikalisch verarbeitet hätte. Tatsächlich mutet manches militärisch an: Die fanfarenhaften Hauptthemen im ersten und im letzten Satz, ein energetischer, oftmals marschartiger Duktus und der häufige Einsatz der Piccoloflöte.
Von Lutosławski selbst gibt es keine Hinweise, inwieweit Kriegserlebnisse in die Musik eingeflossen sind, vielmehr erzählte er einmal, dass er die Idee zu dieser Symphonie bereits vor dem Krieg gehabt habe und dass das Stück fröhlichen Charakters sei. Offenkundig ist, dass er mit dem Dualismus unterschiedlicher Themen arbeitet.
Im ersten Satz setzt er der aufgeregten Trompetenfanfare als zweites Thema eine ruhige, weitausgreifende Streichermelodie entgegen, gleiches gilt für das Finale, in dem das Hauptthema ebenfalls Signalcharakter hat und die Solovioline als Kontrast ein sehr gesangliches zweites Thema einführt. Auch der zweite Satz lebt aus den Gegensätzen einer expressiven lyrischen Hornmelodie und dem schelmisch-schnippischen Auftritt der Oboe.
Der dritte Satz, ein Scherzo, ist tänzerisch angelegt und lässt Walzerelemente aufblitzen. Avantgardistisch erscheinen die zwölftönige Gestalt des Hauptthemas im zweiten Satz, die dissonanten, clusterartigen Fortissimo-Akkorde zu Beginn und kurz vor Ende der Symphonie sowie die Teile, die bereits atonal konzipiert sind.
»Instinktiv hatte ich schon immer zur Atonalität tendiert«, konstatierte Lutosławski. Die Erste Symphonie bildet eine Brücke zwischen Tradition und Avantgarde und ist ein Zeugnis für die frühe Meisterschaft Lutosławskis, der im Jahr der Uraufführung des Werks 35 Jahre alt war. Unabhängig davon ist die Symphonie vor allem eine mitreißende Komposition, die lohnt, öfter aufgeführt zu werden als bisher.