Nach 16 Jahren als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker verlässt Sir Simon Rattle das Orchester. In unserem Gespräch blickt er zurück auf eine Zeit, die ihn zum Berliner gemacht und den Philharmonikern eine neue Rolle in der Gesellschaft beschert hat.
Begonnen hat alles im November 1987. Damals stand ein junger Mann mit wilden Locken ratlos vor dem Haupteingang der Berliner Philharmonie, schwer bepackt mit einem riesigen Koffer, in dem sich die Orchesternoten für Gustav Mahlers Sechste Symphonie befanden. Aufgeregt und nervös sei er gewesen, erzählt Rattle, und daher habe er beschlossen, bis zur ersten Probenpause kein Wort zu sagen und mit den Berliner Philharmonikern zunächst einfach nur Musik zu machen.
Das Ergebnis war überwältigend: »So etwas hatte ich noch nicht erlebt. Es war, als würde ich meine Stimme finden. Ich war doch nur ein seltsamer junger Mann mit sehr vielen Haaren auf dem Kopf. Aber das Orchester war unglaublich kooperativ. Und sehr freundlich und humorvoll.« Die Folgen dieses Debüts des damals 32-Jährigen sind bekannt: Simon Rattle wurde zunächst ein gern gesehener Gast am Pult des Orchesters – und am 1. September 2002 dessen Chefdirigent. Wenn er nun nach 16 Jahren dieses Amt niederlegt, wird er in einem seiner Abschiedskonzerte wiederum Mahlers Sechste dirigieren und damit für sich einen Kreis schließen.
Sein Vorgänger Claudio Abbado war der erste Chefdirigent in der Geschichte des Orchesters, der nicht durch Tod aus diesem Amt schied. Und nun ist Rattle der erste Chefdirigent, der sich lebend und gesund verabschiedet. »Ich bin nicht sicher, ob man in diesem Job gesund bleiben kann, wenn man ihn zu lange macht. Ich habe bei meiner Entscheidung auch an mich gedacht und mir gesagt: Ganz egal, was es ist – es ist anstrengend und stressig, und ich muss auf mich aufpassen.«
An sich und seine Familie zu denken bedeutet für den in Liverpool geborenen Rattle aber auch, weiterhin in Berlin zu wohnen, obwohl er künftig in England arbeitet: Bereits im vergangenen September hat er die Leitung des London Symphony Orchestra übernommen. London sei eine aufregende Stadt, sagt er, aber kein gutes Pflaster für Familien. In Berlin wiederum empfinde er sich zwar als »ständigen Ausländer«; vielleicht sei er Berliner, aber bestimmt kein Deutscher. Doch träfen sich er und seine tschechische Frau Magdalena Kožená hier auf dem neutralen Boden einer Kultur, in der sie beide nicht aufgewachsen sind. So sei Berlin zu ihrer gemeinsamen Heimat geworden, und ihre Kinder sind Berliner. Die Entscheidung, hierzubleiben, habe der Familienrat einstimmig getroffen.
Natürlich beendet Rattle seine Berliner Amtszeit Ende Juni mit einem Konzert in der Waldbühne. »Ich wusste sofort: Ich kann nicht gehen, ohne zum Saisonabschluss dort zu dirigieren. Das ist unser Publikum, das ist Berlin! Aber ich weiß noch nicht, was das allerletzte Stück sein wird. ›Berliner Luft‹ mag ich sehr, aber damit möchte ich mich nicht verabschieden. Ich weiß noch nicht, ob es Brexit-Ironie wird mit ›Pomp and Circumstance‹ oder allgemeine Ironie mit ›Liberty Bell‹, was ja – ›And now for something completely different‹ – die Titelmelodie von Monty Python ist. Vielleicht mache ich einfach beides.«
Berliner zu werden, war für Rattle ein schrittweiser Prozess. Deutsch hat er beim Sprechen gelernt, weil er sich verständlich machen wollte, ohne die leiseste Ahnung von Struktur oder Grammatik der Sprache zu haben. »Man darf niemals glauben, das hätte irgendwas mit Deutsch zu tun, was man da gerade redet.« Mittlerweile ist Rattles Deutsch natürlich besser geworden. Und wie hat sich das Orchester in den 16 Jahren seiner Amtszeit verändert? »Ich weiß noch, bei den Aufnahmen für Schönbergs Gurre-Lieder 2002 sagte ich zum Orchester: ›Dieses Stück passt perfekt zu Ihnen, zu Ihrer Tradition und zu der Art, wie Sie spielen – aber lassen Sie mich bitte nicht immer so lange warten!‹ Natürlich ist sich das Orchester in vielem treu geblieben.
Aber sie reagieren jetzt schneller auf meine Gesten und aufeinander. Das merkt man schon.« Dabei sei dieses Orchester anders als alle Orchester, mit denen er jemals gearbeitet habe. »Wie die einzelnen Musiker zusammenspielen und aufeinander reagieren – das ist eigentlich kein Orchester mehr. Es ist eher ein gigantisches Streichquartett, auch mit allen Konflikten und Frustrationen, die es in einem Streichquartett geben kann. Und auch, wenn sie etwas Neues lernen sollen, brauchen sie so lange wie ein Streichquartett. Aber wenn sie es einmal gelernt haben: Dann sitzt es!«
Das Orchester habe sich über die Jahre verändert. »Und es ist wirklich eine Entwicklung über Jahre, nicht nur über drei Konzerte. Wie das funktioniert, weiß keiner. Der liebe Gott weiß es vielleicht, aber sonst niemand. Ich sage nur: Es ist und bleibt ein Rätsel.« Dabei hat auch schon jeder Chefdirigent vor ihm dem Orchester einen anderen, ganz bestimmten Klang gegeben. »Absolut«, sagt Rattle. »Und der Wechsel von Furtwängler zu Karajan bedeutete eine große Umstellung. Wir haben uns einmal unterhalten, und Karajan sagte zu mir: ›Sie können sich nicht vorstellen, wie schwer es in den ersten fünf Jahren war, das Orchester dazu zu bringen, irgendetwas anders zu machen!‹
Daran habe ich mich später gerne erinnert – dass es ihm also auch nicht anders gegangen ist. Es braucht ganz einfach eine gewisse Zeit. Nur so kann es funktionieren. Und wenn es funktioniert, dann passiert Außergewöhnliches.« Der Weg dahin aber könne lang und steinig sein. »Dieses Orchester macht sich das Leben wirklich nicht leicht. Aber wenn man am Ziel ist und die Blasen an den Füßen verheilt sind, dann weiß man, dass es die Sache wert war. Es ist nicht nur für den Dirigenten schwer, sondern auch für das Orchester.« Braucht das Orchester dieses Gefühl von Mühe und Kampf? »Ja, dieses Orchester wurde unter Mühen geboren, und das ist sein natürlicher Wesenszustand. Ich denke, daran wird sich nichts ändern.«
Vor knapp zehn Jahren sagte Rattle in einem Interview über die Berliner Philharmoniker, das dieses Orchester brenne. Dem stimmt er auch heute noch zu. »Absolut. Wenn man ihnen zu nahekommt ... Man muss aufpassen, wo die Funken sprühen. Aber das ist sehr spannend. Um mehr Leidenschaft muss man sie nie bitten, um manches andere schon. Aber dieses Gemeinschaftsgefühl ist etwas ganz Besonderes. Sie sind wie die Meistersinger: eine Gilde. Und wir sollten niemals vergessen, dass wir nicht zu dieser Gilde gehören. Das trifft es im Grunde: Wir dürfen dabei sein. Wir dürfen teilhaben. Aber sie sind die Gilde, eine eingeschworene Gemeinschaft. Und das ist sehr ungewöhnlich. Natürlich haben alle großen Orchester einen eigenen Willen und ein Gefühl dafür, wer sie sind. Aber das hier ist etwas ganz Besonderes.«
Neben der kürzeren Reaktionszeit hat Rattle dem Orchester auch ein breiteres Repertoire beschert und ein stärkeres Bewusstsein für seine Rolle in der Gesellschaft. »Als ich hier anfing, und auch in den Jahren danach, bekam ich immer wieder zu hören, das Orchester wolle sein Repertoire erweitern, um sich in mehr Musikbereichen heimisch zu fühlen«, so Rattle. »Mein Job war es, dieses Repertoire aufzubauen und das Orchester in allen diesen Bereichen sicher werden zu lassen.«
Ob das Orchester bei der Entscheidung für Rattle auch daran dachte, sein soziales Engagement auszubauen, ist nicht bekannt; in jedem Fall haben die Education-Projekte in seiner Amtszeit die Sicht vieler Musiker auf ihre Rolle in der Stadt verändert. »Das Orchester war neugierig, interessiert und bereit, es auszuprobieren. Und natürlich gibt es eine ganze Reihe von Leuten im Orchester, denen diese Art von Arbeit sehr viel bedeutet. Die Welt hat sich sehr verändert, und die Musiker befinden sich in einer sehr privilegierten Position, ob ihnen das bewusst ist oder nicht. Ich denke, sie sind jetzt dichter am Puls der Stadt.«