Autor*in: Frederik Hanssen
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Daniel Barenboim
Daniel Barenboim | Bild: Peter Adamik

Die intensivste, die innigste Phase dieser absolut außergewöhnlichen Freundschaft lässt sich genau datieren: Sie verläuft parallel zur Euphoriekurve, die ganz Deutschland nach dem Fall der Mauer ergreift. Als die Berliner Philharmoniker sich spontan entschließen, die DDR-Bürger am 12. November 1989 zu einem kostenlosen Sonderkonzert in ihren Saal einzuladen, und bei Daniel Barenboim anfragen, ob er dabei den Taktstock führen wolle, sagt er sofort zu. 

Es wird eine bewegende, einmalige Matinee. Ebenso unvergesslich bleibt allen, die dabei sein durften, die Israel-Reise, die sich nur wenige Monate später anschließt. Im April 1990 ist Daniel Barenboim den Philharmonikern auf der Tournee stets ganz nah, gedanklich wie auch physisch: Er fliegt in derselben Maschine wie die Orchestermitglieder nach Tel Aviv, er besucht gemeinsam mit ihnen die Gedenkstätte Yad Vashem, er setzt sich nach dem Konzert in Haifa mit ihnen in den Reisebus, um in nächtlicher Fahrt zum Hotel in Jerusalem zu gelangen. 

Die Musikerinnen und Musiker bedanken sich auf ihre Art, bleiben nach den Auftritten bewusst sitzen, obwohl sie Barenboim auffordert, die Ovationen des Publikums stehend entgegen zu nehmen – um so allen Applaus auf den Dirigenten zu lenken. 2019 ernennen ihn die Berliner Philharmoniker zu ihrem Ehrendirigent, nachdem er bereits 1989 mit der Hans-von-Bülow-Medaille des Orchesters und 1992 mit der Ehrenmitgliedschaft ausgezeichnet worden war.

Debüt – erst als Pianist, dann als Dirigent

Das erste Angebot, beim Berliner Philharmonischen Orchester zu debütieren, 1954 vom Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler ausgesprochen, schlug Barenboims Vater aus – weil es ihm undenkbar schien, dass sein Sohn im Land der Täter auftreten sollte, nur neun Jahre nach dem Ende des Holocausts. Kaum, dass er volljährig geworden war, kam der 21-Jährige jedoch nach Berlin, beeindruckte 1964 in der gerade erst eingeweihten Philharmonie als Pianist in Béla Bartóks Erstem Klavierkonzert. 

Im Juni 1969 steigt der doppelt Begabte dann erstmals aufs Dirigentenpult, leitet ein ganz traditionelles Programm mit Haydns 95. Symphonie, Beethovens Viertem Klavierkonzert (mit Clifford Curzon als Solist) sowie Schumanns Vierter Symphonie. Die Art, wie Barenboim die Wiener Klassiker angeht, gefällt Tagesspiegel-Kritiker Horst Mäder, bei Schumanns heikler Partitur hingegen zeige sich – so der Rezensent, dass der Pianist, der erst seit acht Jahren dirigiert, »die Probleme des Beginners in diesem Metier noch nicht überwunden hat«. 

Wenn Daniel Barenboim nun ein halbes Jahrhundert später dasselbe Programm noch einmal mit den Philharmonikern interpretiert – wobei Maria João Pires den Part des 1982 verstorbenen Curzon übernimmt –, dann tritt ein Künstler vors Orchester, der im Zenit seiner Meisterschaft steht. Der genau weiß, was er von den Berlinern erwarten kann – nämlich mitdenkendes Musizieren –, und der bereit ist, ihnen während der Aufführung Raum zur individuellen Entfaltung zu geben.

Traumwandlerisch funktionierende Kommunikation

Mag die Besetzung an den Pulten seit 1969 auch gewechselt haben, teilweise sogar mehrfach, der philharmonische Geist ist derselbe geblieben, die so oft traumwandlerisch funktionierende Kommunikation mit Barenboim hat sich gewissermaßen in die DNA des Orchesters eingeschrieben. Kein lebender Dirigent konnte als Gast die Entwicklung der Berliner so prägend begleiten wie Barenboim. Keiner war über Jahrzehnte so präsent in der Philharmonie wie er, in mancher Saison mit bis zu fünf gemeinsamen Projekten. Zwei Mal – 1989 und 1999 – war Barenboim sogar als philharmonischer Chefdirigent im Gespräch. Dass das Orchester sich stattdessen für Claudio Abbado und Simon Rattle entschied, konnte dieser Freundschaft nicht ernstlich etwas anhaben. Weil sie auf tiefer gegenseitiger Zuneigung beruht.

Fruchtbarer künstlerischer Austausch

Große Abende sind in Erinnerung geblieben, mit Werken des klassisch-romantischen Kernrepertoires von Mozart bis Bruckner, aber auch mit schwer zugänglicher zeitgenössischer Musik des Barenboim-Freunds Pierre Boulez oder Raritäten wie Edward Elgars Oratorium The Dream of Gerontius. So eng sind die Bande, dass die Philharmoniker 1998 sogar auf ihre freien Tage verzichteten, um direkt nach den Strapazen der Salzburger Osterfestspiele mit Barenboim bei seinen Festtagen in der Lindenoper aufzutreten. »Die Berliner Philharmoniker sind ein sehr aktives Orchester«, beschrieb Daniel Barenboim 1990 auf der Israel-Tournee im Gespräch mit der Journalistin Sybil Mahlke seine Eindrücke. 

»Ihre Spezialität ist es, dass so viele musikalische Impulse von den Musikern selber auf den Dirigenten zukommen.« Wer als Maestro ein offenes Ohr hat, um diese kreativen Schwingungen aufzunehmen, und wer darüber hinaus auch noch ein Herz besitzt, das groß genug ist, um sie neben seinen eigenen Ideen gelten zu lassen, der wird in den Berlinern treue Freunde finden. Freunde, mit denen der künstlerische Austausch auch mehr als 50 Jahre nach Barenboims philharmonischen Dirigentendebüt noch inspirierend ist.