Ein Vergleich liegt auf der Hand, aber er klingt unstimmig. Anders als der Chefarzt, der Chefkoch oder der Chefredakteur, Führungspersonen (männliche wie weibliche) mit Weisungsbefugnis gegenüber Mitarbeitern, muss sich der Chefdirigent keineswegs als Vorgesetzter fühlen. Auch wenn die Geschichte der Dirigenten bisher ausreichend von Befehlshabern, Alleinherrschern, Autokraten oder gar Despoten bevölkert wurde. Der Chefdirigent – oder in letzter Zeit auch zunehmend die Chefdirigentin – ist der »künstlerische Leiter« eines Kollektivs, das an einer höchst diffizilen, nur in individuellen Versuchsphasen zu erreichenden Herstellung symphonischer Musik zu arbeiten hat. Er probiert, lenkt und koordiniert die Prozesse musikalischer Klangfindung und Sinnstiftung. Und wenn schon das »gewöhnliche« Dirigententum den Mythos vom Maestro heraufbeschworen hat, um wieviel mehr scheint der »Chefdirigent« im Olymp der mythischen Überhöhung zu leben.
Die Berliner Philharmoniker, wie überhaupt die großen Symphonieorchester, ferner die Musiktheater, sie wurden das, was sie sind und was sie ihrer Bedeutung nach öffentlich bewirken, gewiss durch die Energie all ihrer Mitwirkenden, vor allem aber durch das Charisma ihrer Chefdirigenten. Chefdirigent eines Klangkörpers zu sein heißt: die künstlerische Verantwortung für einen musikalischen Organismus innezuhaben, aber auch dessen Wegstrecke über einen längeren Zeitraum zu gestalten. Das setzt eine unmittelbare Nähe zu den Künstlern voraus, das Vertrauen der Musiker, um einer komplexen Institution ästhetische Form und Farbe, den Rhythmus und die inhaltliche Bestimmung zu geben.
Musikalisches Können und persönliche Autorität strömen dabei sowohl ins Publikum als auch ins Bewusstsein des Orchesters. So bestimmt der Gestaltungswille des Chefdirigenten nicht nur das Formen der erklingenden Musikwerke und der Programme, sondern ebenso die Konzeption der Konzerte und Tourneen, der Solisten und Gäste einer Spielzeit. In den Blick des Chefdirigenten rücken jedoch auch Fragen der Organisation, die er mit dem Orchester und der Intendanz oder Geschäftsführung abklärt. Außerdem wird er menschliche Probleme und Missverständnisse nicht ignorieren, überhaupt das kreative Wohlbefinden der Musikerinnen und Musiker zu beeinflussen suchen, da es mittelbar auf die Kunstprozesse einwirkt.
Das Gewicht und die Einflussnahme des Chefdirigenten sind kaum zu überschätzen. Denn er – oder sie – prägt die spezifische Klangsprache, die künstlerische Substanz und Identität seines/ihres Orchesters. Er hilft, die Ausdruckskraft und Aura eines Orchesters entstehen zu lassen und damit den Grad des Erfolges zu mehren. Er verkörpert sogar, wenn seine geistige Wachheit es vermag, die Vision von Gegenwart und Zukunft seines Orchesters. Mit seiner persönlichen Übertragungsfähigkeit wird er zur künstlerischen Schlüsselfigur der Kultur einer Stadt oder eines Landes. Dass der Chefdirigent demnach eine Macht ausübt, sie geradezu repräsentiert, sodass das symbolische Bild eines kulturellen Mythos entstehen konnte, ist nicht weiter verwunderlich. So gesehen scheint die berühmte Definition der Macht, die der österreichische Schriftsteller Elias Canetti der Kapellmeisterkunst zuerkannte, durchaus zutreffend.
Canetti hat in seiner 1960 erschienenen Studie »Masse und Macht« das Bild vom Dirigenten vereinfacht und zugespitzt. So gibt es ihm zufolge »keinen anschaulicheren Ausdruck für Macht« als das Tun des Dirigenten. Denn dieser habe, da er »auf alle zusammen achtet«, das »Ansehen der Allgegenwärtigkeit«, und er sei für die Zuhörer im Saal »ein Führer«. Für die Autokraten vergangener Dirigentenepochen, beispielsweise für Arturo Toscanini und Wilhelm Furtwängler, Leopold Stokowski, Fritz Reiner oder Herbert von Karajan, mag Canettis Gleichung »Dirigent gleich Macht« zutreffen. Die Frage bleibt dabei offen, welche künstlerische Sensibilität und welches geistige Kaliber, eine wie beschaffene Charakterstärke dem Dirigenten welche Art von Macht verleiht. Und wie plausibel und überzeugend er seine Macht einsetzt, mit welchen Mitteln und für welche Ziele.
Die Berliner Philharmoniker geben das gelungene Beispiel dafür ab, auf welche Weise ihre Chefdirigenten und künstlerischen Leiter durch die Jahrzehnte hindurch, seit der Gründung im Jahr 1882, das Orchester in seiner kollektiven Beschaffenheit und seinem künstlerisch-individuellen Charakter geformt, gleichzeitig das Bild des Orchesters in der Öffentlichkeit sozusagen magisch animiert haben. Wobei die Orchestermusiker selbst einem Instinkt folgen: Sie haben es verstanden, ihre Dirigenten nach dem Kontrastprinzip zu bestimmen, den jeweiligen Nachfolger von der künstlerischen Physiognomie des Vorgängers ersichtlich abzugrenzen – was Reichhaltigkeit und Vielfalt im Musikalischen fast schon garantiert.
Ein besonderer Glücksfall produktiver Stetigkeit in der Berliner Philharmonie ist die lange Verweildauer der Chefdirigenten: Kirill Petrenko ist erst der siebente Leiter in der 135-jährigen Geschichte des Orchesters. Hans von Bülow und Arthur Nikisch legten mit ihren, bei aller Charakterdifferenz souveränen Eigenheiten, ihrer musikalischen Leidenschaft, das feste Fundament für kommende Jahrzehnte. Wilhelm Furtwängler ließ die spätromantisch-deutsche Orchesteridee symphonisch noch einmal aufblühen. Herbert von Karajan setzte als Erbe Toscaninis auf das vollendete, schöne Klangbild.
Claudio Abbado brachte den Berlinern die literarisch-musikalischen Themenabenteuer sowie die modernen Komponisten. Sir Simon Rattle, der Kommunikator, erweiterte spannungsgeladen das Panor-ma in Richtung eines überbordenden symphonischen Spektrums. Und Kirill Petrenko? Er will mit höchster Disziplin und Konzentration, fern aller Medienneugier, vor allem beseelt musizieren.
Die Arbeit der Dirigenten ruft das Klischee eines Imperativs auf den Plan, den das Publikum der symphonischen Rituale hartnäckig zu fordern scheint: Es werde Suggestion! Faszination! Rausch! Magie! Der Mythos des Dirigenten ist auf jeden Fall verbunden mit der Vorstellung von Größe in der Musik. »Künstlerische Größe ist zugleich dauernder und uni-versaler als geschichtliche Größe«, bekannte der deutsch-amerikanische Musikschriftsteller Alfred Einstein. Auch darin hat der Mythos Dirigent seinen Ausgangspunkt.