Die 1920er-Jahre begannen für die Berliner Philharmoniker mit einem Jubiläum: Arthur Nikisch war seit 25 Jahren ihr Chefdirigent. In dieser Zeit sei das Ansehen des Orchesters – so die Signale für die musikalische Weltb– von Jahr zu Jahr gewachsen. Zum Jubiläumskonzert am 1. März kam die »Zuhörerschaft in großer Toilette«, es gab Standing Ovations und einen zutiefst gerührten Jubilar. Doch das kommende Jahrzehnt stand bei den Berliner Philharmonikern nicht im Zeichen Nikischs, der im Januar 1922 überraschend verstarb, sondern gehörte einem anderen Dirigenten: Wilhelm Furtwängler, der als sein Nachfolger die Philharmoniker zu neuen künstlerischen Höhen führen sollte.
Ebenfalls ein wichtiger Dirigent des Jahrzehnts war Bruno Walter, der sich große Hoffnungen auf die Nikisch-Nachfolge gemacht hatte und der jedes Jahr – quasi als ständiger Gastdirigent – eine eigene, sogenannte »Meisterkonzertreihe« leitete. Beide Dirigenten arbeiteten mit den großen Solisten der damaligen Zeit: Edwin Fischer, Artur Schnabel, Fritz Kreisler, Joseph Szigeti, Bronisław Huberman, Richard Tauber, Maria Ivogün – sie alle zählten zu den Gästen des Orchesters. Noch heute berühmte Musiker wie Otto Klemperer, Erich Kleiber oder Wladimir Horowitz standen damals am Anfang ihrer Karriere und gaben in den 1920er-Jahren ihre philharmonischen Debüts.
Wilhelm Furtwängler gilt heute vor allem als genialer Interpret der Werke von Beethoven, Brahms, Bruckner und Wagner, Des weiteren bestimmter Werke von Schubert, Haydn, Mozart, Schumann und Strauss. Wie sehr seine Konzerte Publikum und Presse emotional ergriffen, zeigt eine Besprechung nach der Aufführung von Bruckners Neunter 1926: »Die Darstellung des Werks durch Furtwängler und die Philharmoniker war ein Erlebnis, das man nicht vergißt, - erhaben –, von heiliger Ehrfurcht getragen, – besonders erschütternd dort, wo der irdische Kampf sich in weite Fernen verliert…« (Signale, November 1926).
Während seiner Amtszeit setze sich Furtwängler jedoch auch engagiert für die Musik jener Zeit ein – nicht immer zur Freude des Publikums. Die Aufführung von Strawinskys Le Sacre du printemps 1924 oder die Uraufführung von Schönbergs Variationen für Orchester 1928 gerieten zum Skandal. Nach der Darbietung des Schönberg-Werks gab es ein 20-minütiges Pfeiffkonzert. Nahezu alle Klassiker der Moderne finden sich in den damaligen Programmen: Bartók, Schreker, Busoni, Korngold, Hindemith, Berg, Webern, Janáček und Kodály. Das Werk Gustav Mahlers fand immer mehr Anerkennung und in der Saison 1923/24 veranstalteten die Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Klaus Pringsheim, eines Schülers des Komponisten, den ersten Mahler-Zyklus in Deutschland. In den philharmonischen Programmen jener Zeit entdeckt man allerdings auch viele Namen von Komponisten, Dirigentinnen und Dirigenten sowie Solistinnen und Solisten, die heute keiner mehr kennt.
Das liegt vor allem daran, dass die Berliner Philharmoniker verschiedene »Geschäftsmodelle« bedienten: Da waren zum einen die prestigeträchtigen Konzertreihen von Furtwängler, Walter und weiterer Dirigenten, die die Konzertagentur Wolff & Sachs veranstalte. Dann kamen die sogenannten Populären Konzerte, die jeweils sonntags, dienstags und mittwochs stattfanden, sowie die von der Stadt Berlin subventionierten Volks- und Jugendkonzerte. Schließlich gab es noch die vielen Konzerte, für die das Orchester von Solisten, Komponisten, Dirigenten, verschiedenen Konzertagenturen, Chören und Musikgesellschaften eingekauft wurde. Ein Berliner Philharmoniker leistete damals zwischen 500 bis 600 Dienste pro Jahr. »Zum Eintritt in das Philharmonische Orchester gehört großer künstlerischer Idealismus und starke Opferbereitschaft für die künstlerische Persönlichkeit«, verriet 1922 ein nicht genannter Musiker einem Journalisten des Berliner Tageblatts.
Und der Journalist führte weiter aus, dass Kino und Kaffeehaus einem Spitzenmusiker bessere wirtschaftliche Möglichkeiten bieten könne als die Philharmoniker. Trotz des hohen Arbeitseinsatzes war die finanzielle Lage des Orchesters desaströs. Während der Inflation verlor es zudem auch das Vermögen seines Pensionsfonds. Die Philharmoniker kämpften in den »Goldenen Zwanzigern« ums Überleben – und das machte sie auch kreativ: Um ihre Einnahmen zu verbessern, unternahmen sie zusammen mit Furtwängler nahezu jährlich große Tourneen durch Deutschland, die Schweiz und England und gaben Gastspiele in Prag, Wien und Budapest. Die rege Reistätigkeit trug maßgeblich dazu bei, das internationale Ansehen des Orchesters und seines charismatischen Chefdirigenten zu vergrößern. Trotz aller Anstrengungen standen die Philharmoniker Ende des Jahrzehnts vor dem Ruin. Der Hartnäckigkeit Furtwänglers und des Orchestervorstands ist es zu verdanken, dass es 1929 zu einer wirtschaftlichen Neuordnung kam und sie die Stadt Berlin und das Deutsche Reich zu größeren Zuschüssen verpflichteten.
Das Jahr 1929 bescherte den Berliner Philharmonikern nicht nur die finanzielle Neustrukturierung, sondern auch einen ungewöhnlichen Skandal: Die in Wien ansässige Komponistin Lise Maria Mayer, eine Schülerin Gustav Mahlers, engagierte die Berliner Philharmoniker für die Uraufführung ihrer Symphonie »Kokain«. Leider verlief der Kartenvorverkauf so schlecht, dass Lise Maria Mayers Ehemann zu einer ungewöhnlichen List griff: Er inserierte eine Heiratsannonce, in der eine wohlhabende Witwe interessierte Bewerber dazu aufforderte, für ein erstes Treffen in das betreffende Konzert zu kommen. Dem Aufruf folgten viele heiratswillige Männer, doch der Schwindel flog auf, es kam zum Skandal und der Gatte musste die finanziellen Folgen tragen.
Künstlerisch gesehen zeichnete sich das letzte Jahr der »Goldenen Zwanziger« durch etwas anderes aus: das philharmonische Debüt des zwölfjährigen Geigers Yehudi Menuhin, der – angetan mit weißem Hemd, kurzer Hose und Wollstrümpfen – unter Bruno Walters Leitung Bachs Violinkonzert E-Dur sowie die Konzerte von Beethoven und Brahms spielte. Ein Jahrhundertereignis. »Yehudi Menuhin ist eine Persönlichkeit, in der sich höhere Offenbarung widerspiegelt«, hieß es in einer Konzertkritik. »Mag ein günstiger Stern über die Zukunft dieses Talents leuchten.«