Claudio Abbados musikalische Laufbahn war eng mit den Berliner Philharmonikern verknüpft – nicht erst seit ihn das Orchester 1989 zum Chefdirigenten und somit zum Nachfolger Herbert von Karajans wählte, sondern bereits seit Dezember 1966. Damals gab der erst 33-Jährige sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern, kurz nach Seiji Ozawa.
Karajan hatte in jenen Jahren einige vielversprechende Nachwuchsdirigenten nach Berlin geholt, und die Presse urteilte, Abbado sei von ihnen die »stärkste Begabung«. Diese Begabung wollte das Orchester natürlich nicht ungenutzt lassen. Bereits im folgenden Jahr wurde das junge Talent wieder eingeladen.
Das Konzertprogramm mit Alban Bergs Orchesterstücken op. 6, Gustav Mahlers Rückert-Liedern und Ludwig van Beethovens Siebter Symphonie spiegelt die Schwerpunkte wider, die Abbados künstlerische Arbeit zukünftig prägen sollten: die Wiener Klassik, das deutsche romantische Repertoire und die klassische Moderne. Zwischen Dirigent und Orchester entwickelte sich eine fruchtbare Zusammenarbeit. 33 Mal stand der gebürtige Mailänder in den folgenden Jahren als Gastdirigent am Pult der Philharmoniker, ehe ihm die Position des Chefdirigenten angetragen wurde.
Als Claudio Abbado sein neues Amt antrat, war gerade die Mauer gefallen. Berlin und die beiden deutschen Staaten befanden sich im politischen Umbruch. Eine Wende stand an – in Deutschland und bei den Berliner Philharmonikern. »Ich bin Claudio für alle. Kein Titel!« Mit diesen ebenso schlichten, wie revolutionären Worten stellte er sich, jede Starallüre vermeidend, als neuer Chef vor.
Im Orchester fand ein Generationenwechsel statt, viele altgediente Musiker gingen in den Ruhestand, jüngere übernahmen ihre Positionen. Claudio Abbado strebte einen transparenteren Orchesterklang an als sein Vorgänger. Mit seinen Konzertprogrammen setzte der Chefdirigent ganz eigene ästhetische Akzente.
Kennzeichnend für die Ära Abbado waren die großen Konzertzyklen, die ein spezielles Thema in den Mittelpunkt stellten, beispielsweise Prometheus, Faust oder Shakespeare, und die Auseinandersetzung mit dem Werk Gustav Mahlers.
Nicht zu vergessen die konzertanten Opernaufführungen: zum Beispiel von Mussorgskys Boris Godunow, Verdis Simon Boccanegra, Wagners Tristan und Parsifal sowie Alban Bergs Wozzeck. Aber auch so mancher bislang unbekannter musikalischer Schatz wurde gehoben, beispielsweise Gioacchino Rossinis Il viaggio a Reims oder Franz Schuberts Fierrabras.
2002 legte Claudio Abbado sein Amt als Chefdirigent nieder, im Mai 2002 gab er im Wiener Musikvereinssaal sein letztes Konzert in seiner Funktion als Chef der Berliner Philharmoniker. Beim Schlussapplaus regneten mehr als 4000 Blumen auf ihn herab.
Trotz dieses Abschieds blieb der Dirigent dem Orchester bis zu seinem Tod im Januar 2014 weiterhin künstlerisch verbunden. Einmal im Jahr, im Mai, kehrte er nach Berlin zurück, um mit den Philharmonikern zu musizieren. Seine Konzerte mit der für ihn typischen Programmatik hatten Kultstatus und bildeten ein Highlight der Saison. 2008, kurz vor Abbados 75. Geburtstag, geriet sein Berliner Auftritt zu einem besonderen Ereignis: Wegen eines Brandes im Dachstuhl der Philharmonie musste das Konzert kurzfristig in die Waldbühne verlegt werden.
2013, im Jahr seines 80. Geburtstags, führten die Philharmoniker unter seiner Leitung zwei Schlüsselwerke der Romantik auf: die Bühnenmusik zu Felix Mendelssohn Bartholdys Ein Sommernachtstraum und Hector Berlioz’ Symphonie fantastique, ein Werk, das er übrigens nie zuvor mit den Berliner Philharmonikern interpretiert hatte. Es war sein letztes Konzert mit den Berliner Philharmonikern. »Das Unerhörte am späten Abbado ist seine Kunst, Natur und Geist, Eleganz und analytische Klarheit, Schönheit und Grausamkeit zusammenzubringen«, hieß es anschließend in der Kritik des Tagesspiegel.