Die Jahre 1933 bis 1945 markieren einen Wendepunkt in der Geschichte der Berliner Philharmoniker. Die Gräuel des sogenannten »Dritten Reichs« stürzten Deutschland in den moralischen und physischen Ruin und verwüsteten Europa. Doch die Reaktion auf Hitlers entsetzliches Erbe wurde auch zum Ausgangspunkt für die politische, wirtschaftliche, intellektuelle und kulturelle Wiedergeburt des Kontinents. In den furchtbaren Jahren von Diktatur und Krieg standen die Berliner Philharmoniker in vielerlei Hinsicht in vorderster Linie. Ihre Erfahrungen – samt aller Brüche und Kontinuitäten – hinterließen sowohl tiefe Narben als auch Strukturen, die grundlegend für ihre weitere Entwicklung werden sollten.
Das 1882 als unabhängige, selbstverwaltete Vereinigung gegründete Ensemble erhielt als private GmbH im Besitz der Musiker fast keine staatliche Unterstützung. Während der ersten Jahrzehnte seiner Existenz hielt sich das Orchester finanziell über Wasser mit einer Kombination aus glanzvollen, von den großen zeitgenössischen Dirigenten geleiteten Abonnementskonzerten und Ad-hoc-Matineen, Freiluft-, Arbeiter- und Volkskonzerten sowie lukrativen Auslandstourneen. In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg geriet das prekäre Geschäftsmodell der Berliner Philharmoniker jedoch ins Wanken: Das Ensemble fiel der sozialen und wirtschaftlichen Instabilität der Weimarer Republik zum Opfer und stand 1933 am Rande des Bankrotts.
In einem letzten Versuch, das Überleben des Orchesters zu sichern, wandte sich Lorenz Höber, Orchestervorstand der Berliner Philharmoniker, im Februar 1933 mit der Bitte um eine Nothilfe an Hitlers neugewählte Regierung. Das internationale Renommee des Ensembles und seines berühmten Chefdirigenten Wilhelm Furtwängler weckten das Interesse von Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels, der rasch die Schirmherrschaft über das Orchester übernahm. Als Gegenleistung verkauften die Musiker der Berliner Philharmoniker im November 1933 ihre sämtlichen GmbH-Anteile an den deutschen Staat. Sie traten diesem also ihre Rechte als Anteilseigner ab und erhielten im Gegenzug als Beamte unter der Aufsicht von Goebbels’ Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda (RMVP) finanzielle Sicherheit.
In den folgenden zwölf Jahren unterhielten die Berliner Philharmoniker und das »Dritte Reich« eine geradezu symbiotische Beziehung wechselseitiger Abhängigkeit und Unterstützung. Das »Reichsorchester« war Deutschlands führender Kulturbotschafter: Außer auf Auslandstourneen trat es während des Zweiten Weltkriegs und in der Zeit davor auch bei zahlreichen öffentlichen Veranstaltungen auf – von den Nürnberger Reichsparteitagen und der Eröffnung der Olympischen Spiele 1936 bis zu den Feierlichkeiten zu Hitlers Geburtstag. Dank der Unterstützung durch das NS-Regime erfreute sich das Ensemble außerdem zahlreicher Privilegien.
Die Berliner Philharmoniker wurden von der (staatlich kontrollierten) Presse und vom Publikum als Wahrzeichen nationalen Stolzes bejubelt; die finanzielle Zukunft des Orchesters war gesichert, und die Musiker wurden nach einem Sonderklasse-Tarif bezahlt, der an der Spitze der neuen Tarifordnung für deutsche Kulturorchester lag. Das RMVP stellte darüber hinaus einzelnen Orchestermitgliedern wertvolle Musikinstrumente als Leihgabe zur Verfügung. Das vielleicht wichtigste Privileg: Nach dem Einmarsch von Hitlers Armeen 1939 in Polen wurde den Orchestermusikern der Status »U.K.« (»unabkömmlich«) erteilt, womit sie von jeder militärischen Verpflichtung freigestellt waren. Dank persönlicher Anweisungen von Goebbels und später Albert Speer blieb ihnen dieser Status selbst dann erhalten, als der Zweite Weltkrieg längst alle anderen Kulturinstitutionen des Landes in ihrer Existenz bedrohte.
Trotz aller Belohnungen für ihre Loyalität war das Bündnis der Berliner Philharmoniker mit dem Nazi-Regime nicht spannungsfrei. Nur wenige Mitglieder des Ensembles – vielleicht 15 – traten jemals der NSDAP bei. Die stolze Tradition der Selbstverwaltung ließ sich zudem nur schwer mit den beiden zentralen nationalsozialistischen Konzepten für die Reorganisation des öffentlichen Lebens in Einklang bringen: der Gleichschaltung und der Einführung des Führerprinzips. Im Jahr 1933 gehörten dem 101-köpfigen Ensemble auch vier jüdische Musiker an: Konzertmeister Szymon Goldberg, der Erste Geiger Gilbert Back und die beiden Solocellisten Nicolai Graudan und Joseph Schuster. Obwohl Furtwängler auf höchster Ebene intervenierte, um die künstlerische Integrität seines Orchesters vor jeglichen politischen Eingriffen zu bewahren, litten die vier Musiker unter dem Druck der Gleichschaltung, und ihr Leben wurde schließlich unerträglich. Sie verließen Deutschland unter schwierigsten Bedingungen zwischen 1934 und Ende 1935 – ein dauerhafter Verlust für das Orchester.
Der heiklen Beziehung zwischen den Berliner Philharmonikern und Goebbels fiel schließlich auch Furtwängler zum Opfer. Anfangs förderte er das Modell des »Reichsorchesters«, weil er darauf vertraute, dass seine Position als Orchesterleiter eine wohlwollende Anwendung des Führerprinzips und die dauerhafte künstlerische Unabhängigkeit des Ensembles sichern würde. Die Grenzen der künstlerischen Freiheit unter der NS-Herrschaft zeigten sich jedoch bereits 1934, als sich Furtwängler mit dem Regime einen Machtkampf um die Aufführung von Paul Hindemiths neuer Oper Mathis der Maler lieferte und sich danach entschloss, von allen offiziellen Ämtern zurückzutreten – sowohl bei den Berliner Philharmonikern als auch an der Berliner Staatsoper und in der Reichsmusikkammer. Dies beendete de facto jede Hoffnung auf eine operative Unabhängigkeit des Orchesters: Aus dem Programm der Berliner Philharmoniker verschwanden neben »neuer« Musik wie der von Hindemith auch Werke jüdischer Komponisten wie Mendelssohn, Mahler und Schönberg.
Obwohl Furtwängler nach 1934 zu einzelnen Anlässen erneut das Ensemble dirigierte, weigerte er sich, eine leitende Funktion zu übernehmen, und überließ das Dirigentenpult etlichen vom Regime sanktionierten Gastdirigenten, darunter Hans Knappertsbusch, Carl Schuricht, Eugen Jochum, Karl Böhm und – nach seinem Debüt im April 1938 – dem jungen Herbert von Karajan. Gleichzeitig wurde dem Orchester eine professionelle Management-Struktur aufgezwungen (samt der beispiellosen, politisch bedingten Berufung eines »Intendanten«); dies sicherte die Gefügigkeit der Orchesterverwaltung gegenüber der NS-Bürokratie.
Nach Kriegsbeginn nahm die Identifizierung der Berliner Philharmoniker mit dem NS-Reich hässlichere Züge an. Im Ausland erwarb sich das Orchester den üblen Ruf von »Vorkämpfern der Fallschirmjäger«; Konzerte der Philharmoniker in unbesetzten Gebieten waren deshalb ein Sicherheitsrisiko. Die Musiker wurden immer mehr wie eine Militäreinheit eingesetzt; um rechtzeitig zu ihren Auslandskonzerten zu kommen, reisten sie in Zügen der Wehrmacht. Solche Reisen waren allerdings nicht ungefährlich, und je länger der Konflikt andauerte, desto deutlicher spürten die Musiker den Terror und die wechselhaften Geschicke des Krieges. Durch Bombenabwürfe oder Selbstmord verlor das Ensemble sechs Mitglieder. Die Zerstörung der alten Philharmonie durch einen Bombenangriff der Alliierten auf Berlin Ende Januar 1944 war das sichtbarste Zeichen der Verwundbarkeit des Orchesters – und des Regimes, dem es widerwillig diente.
Nach der Kapitulation von Nazi-Deutschland hing das Überleben des Orchesters erneut am seidenen Faden. Es stand ohne eigenes Konzerthaus, ohne Finanzmittel und politische Protektion da und musste sich auf seine selbstbestimmten, betriebsamen Wurzeln besinnen. Wie so häufig reagierten die Berliner Philharmoniker mit Ausdauer, Kreativität und Weitsicht auf diese Situation. Lange vor den offiziellen Entnazifizierungsverfahren beschloss das Ensemble, sich von sechs Musikern zu trennen – eine selbstauferlegte Reinigung von früheren NSDAP-Mitgliedern. Die Wahl des Dirigenten Leo Borchard für ihre ersten Nachkriegskonzerte war eine wohlüberlegte künstlerische Entscheidung. Furtwängler blieb zwar der geistige und musikalische Leiter des Orchesters, war als Person im Nachkriegsdeutschland jedoch nicht unumstritten.
Borchard war seit langer Zeit mit den Berliner Philharmonikern verbunden und ein Verfolgter des Hitler-Regimes; während des Kriegs hatte er sich dem Widerstand angeschlossen. Als Opfer des Nationalsozialismus konnte er den kompletten Bruch des Ensembles mit seiner jüngeren Vergangenheit überzeugend vermitteln. Außerdem sprach er fließend Russisch, was die Beziehungen zur sowjetischen Besatzungsmacht in Berlin vereinfachte. So präsentierten die Berliner Philharmoniker am 26. Mai 1945 im Titania-Palast, einem Kino in Berlin-Steglitz, ihre neue Zukunftsvision – mit Borchard und einem Programm, das unter anderem Mendelssohns Sommernachtstraum-Ouvertüre umfasste. Damit illustrierten sie überzeugend ihren Anspruch, eine führende Rolle im Musikleben einer neuen Ära Deutschlands zu spielen.