Am 26. Mai 1945, knapp drei Wochen nach der deutschen Kapitulation, fand im Titania-Palast das erste Nachkriegskonzert der Berliner Philharmoniker statt. Das Programm hatte Symbolkraft: Am Anfang stand die Sommernachtstraum-Ouvertüre von Mendelssohn Bartholdy, dessen Musik zwölf Jahre lang offiziell geächtet war; dann das Violinkonzert A-Dur von Mozart mit dem philharmonischen Konzertmeister Ulrich Grehling und die Vierte Symphonie von Tschaikowsky. Am Pult stand der 46-jährige Dirigent Leo Borchard, der erste Nachkriegsdirigent des Orchesters.
Lew Ljewitsch (Leo) Borchard wurde am 30. März 1899 in Moskau geboren. 1920 kam er zum Studium nach Berlin und wurde Schüler von Hermann Scherchen, einem der wichtigsten Dirigenten der Zeit. Er begann seine Karriere als Chorleiter sowie als Korrepetitor an der Städtischen Oper und als Assistent von Otto Klemperer an der Staatsoper Unter den Linden. Doch mehr als die Oper interessierte ihn das symphonische Repertoire. Er leitete verschiedene Rundfunkorchester, ehe er am 3. Januar 1933 bei den Berliner Philharmonikern mit Werken von Haydn, Beethoven und Brahms debütierte.
Die Zusammenarbeit gestaltete sich vielversprechend: Bereits im November 1933 entstehen unter seiner Leitung Schallplattenaufnahmen mit dem Orchester. Im Dezember dirigierte er sein zweites Konzert mit einem »bunten Programm«. Von 1934 bis 1937 steht er häufig am philharmonischen Pult, vor allem bei den »Populären Konzerten«. Borchards Auftritte fanden Anklang, er erhielt gute Kritiken. Doch die aufstrebende Karriere stagnierte Mitte der 1930er Jahre wegen vermeintlicher »politische Unzuverlässigkeit«. Leo Borchard lebte damals künstlerisch weitestgehend zurückgezogen, dirigierte nur noch im Ausland. Zugleich wurde er Mitglied der Widerstandsgruppe Onkel Emil.
Nach Kriegsende nahmen die Berliner Philharmoniker offenbar früh Kontakt zu Leo Borchard auf. Er war der Mann der Stunde. Der Magistrat von Berlin betraute ihn »bis zur endgültigen Entscheidung mit der künstlerischen Gesamtleitung des Berliner Philharmonischen Orchesters.« Er wurde Präsidiumsmitglied der neugegründeten Kammer der Kunstschaffenden, zu deren Aufgaben auch die Mitwirkung bei der Überprüfung der nazistischen Tätigkeit von Künstlern gehört. Borchard ging mit Enthusiasmus und Elan an seine Aufgaben, doch sein Leben endete abrupt. Im August 1945 wird er nach einem Abendessen bei dem musikliebenden britischen Oberst Thomas R. M. Creighton irrtümlich von einem amerikanischen Soldaten erschossen.