Als Claudio Abbado 1998 seinen Rückzug vom Amt des Chefdirigenten bekanntgab, stellte er die Berliner Philharmoniker vor eine große Herausforderung. Galt es doch, eine Persönlichkeit zu finden, die das Orchester auf das 21. Jahrhundert einstimmt. Mit Sir Simon Rattle, damals Künstlerischer Leiter des City of Birmingham Symphony Orchestra, holten die Musiker sich einen Chef, der mit dem Ziel antrat, die Philharmoniker zu einem »durch und durch europäischen Orchester zu formen«.
Wie sein Vorgänger so war auch der Brite den Philharmonikern bereits durch eine langjährige, inspirierende Zusammenarbeit verbunden. Seit seinem philharmonischen Debüt 1987 mit Mahlers Sechster Symphonie hatte Simon Rattle 58 Mal am Pult des Orchesters gestanden. Er favorisiert einen noch transparenteren Orchesterklang, konfrontiert die Musiker mit Dirigenten, die als Spezialisten der historischen Aufführungspraxis gelten, und rückt die Werke der Wiener Klassik sowie zeitgenössischer Komponisten – u. a. Hans Werner Henze, Thomas Adès, Jörg Widmann, Sofia Gubaidulina und Heiner Goebbels – stärker in den Fokus.
Große Beachtung fanden sein zyklische Interpretationen der Symphonien von Beethoven, Brahms, Sibelius, Mahler und Schumann, aber auch die von Peter Sellars inszenierten Aufführungen von Bachs Johannes- und Matthäus-Passion – letztere war für Rattle »das Wichtigste, was wir hier je gemacht haben«. Zudem führte er 2011 ein neues Konzertformat ein: die Late Night-Konzerte, Musik zu später Stunde mit origineller Programmatik. In seiner Amtszeit setzte sich die Verjüngung des Orchesters fort.
Und nicht nur das. Ganz der Absicht entsprechend, die klassische Musik aus ihrer elitären Enklave herauszuholen und dem Publikum neue Wege zur Musik zu weisen, etablierte Rattle das Education-Programm der Berliner Philharmoniker. Damit will das Orchester Menschen erreichen, die bislang wenig oder gar keinen Zugang zur klassischen Musik haben, insbesondere Kinder und Jugendliche.
In den zahlreichen Projekten können diese ihre eigenen kreativen Ressourcen entdecken. Zu den Höhepunkten der Education-Arbeit zählten die jährlichen Tanzprojekte in der arena Berlin im Stadtteil Treptow sowie ab 2014 die Chorprojekte in der Philharmonie. Besonderes Aufsehen erregte 2003 die Präsentation von Strawinskys Le Sacre du printemps, die die Berliner Philharmoniker und der Choreograf Royston Maldoom mit Berliner Jugendlichen erarbeiteten.
Den Entstehungsprozess dieses Projekts dokumentiert der preisgekrönte Film Rhythm Is It! Für ihre Education-Arbeit erhielten die Berliner Philharmoniker zahlreiche Preise und Ehrungen. 2007 – im Jahr ihres 125-jährigen Bestehens – wurden das Orchester und Sir Simon Rattle zu Internationalen UNICEF-Botschaftern ernannt. Beim Tag der offenen Tür im Mai 2018 realisierte er sein letztes Education-Projekt als Chefdirigent: Er dirigierte das BE PHIL Orchestra, das sich aus rund 100 Laienmusikern aus aller Welt zusammensetzte und dabei deutlich machte, dass gemeinsames Musizieren eine große Verbundenheit schafft.
Die Ära von Simon Rattle erweist sich noch auch auf ganz anderen Gebieten als zukunftsweisend. 2002, im Jahr seines Amtsantritts, wurden das Berliner Philharmonische Orchester, bislang eine Dienststelle des Berliner Senats, und die mit der Wahrnehmung der Medienrechte betraute Berliner Philharmoniker GbR zur Stiftung Berliner Philharmoniker zusammengeführt.
2009 ging das Orchester online – mit der Digital Concert Hall, die es Klassikfans auf der ganzen Welt ermöglicht, die philharmonischen Konzerte live im Internet zu erleben. Ein innovatives Projekt, das sich – wie schon das Education-Programm – nur dank der Unterstützung der Deutschen Bank realisieren ließ.
Auch die Konzertreisen der Berliner Philharmoniker führen unter Rattles Ägide zu neuen Horizonten: 2010 ging es erstmals nach Abu Dhabi, und seit 2013 finden die Osterfestspiele nicht mehr in Salzburg, sondern in Baden-Baden statt. Im Januar 2013 gab Sir Simon Rattle bekannt, dass er seinen im Jahr 2018 auslaufenden Vertrag mit den Berliner Philharmonikern nicht mehr verlängern werde.
In den letzten Jahren seiner Amtszeit verwirklichte er noch einige ihm wichtige Projekte: die halbszenischen Opernaufführungen von Debussys Pelléas et Mélisande und Ligetis Le Grand Macabre in der Regie von Peter Sellars sowie die Neuproduktion von Wagners Parsifal bei den Osterfestspielen Baden-Baden 2018; außerdem initiierte er die sogenannte Tapas-Reihe, bei der er namhafte zeitgenössische Komponisten beauftragte, kurze Stücke zu komponieren.
In seinem letzten Konzert in der Philharmonie verabschiedete er sich von seinem Amt als Chefdirigent mit der Sechsten Symphonie von Gustav Mahler, jenem Werk, mit dem er einst bei den Berliner Philharmonikern debütiert hat.