Autor*in: Kerstin Schüssler-Bach

Entstehungszeit: 1945
Uraufführung: 4. Oktober 1945 in New York durch das New York Philharmonic Orchestra, Dirigent: Artur Rodziński
Dauer: 25 Minuten

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 4. April 1950 unter der Leitung von Sergiu Celibidache

»The Gift to be Simple« – die Gabe der Einfachheit. Aaron Copland beschwört sie in seinem Erfolgsstück Appalachian Spring, dessen Schlusssatz die berühmte Liedmelodie ausgiebig zitiert. Es ist eine Musik der inneren Ruhe und Aufrichtigkeit, klar und unverfälscht wie ein »Appalachian Spring« – wobei das englische Wort »Spring« hier eigentlich nicht den »Frühling« meint, sondern eine »Quelle«, aus der ein Bach in den Appalachen fließt, einem riesigen Gebirgszug im Osten der USA. Der Titel entstammt nämlich einem Langgedicht von Hart Crane, das den »weißen Schleier« des herabfließenden Stroms besingt: »O Quelle der Appalachen! Ich eroberte den Felsvorsprung; / Steiles, unzugängliches Lächeln, das sich ostwärts neigt.«

Dieser Abschnitt von Cranes Poem ist mit »Der Tanz« überschrieben – was uns direkt zum Ursprung von Coplands Stück führt. Es entstand als Ballettmusik für die berühmte Choreografin Martha Graham, deren Company das moderne Tanztheater in die USA brachte. Ermöglicht wurde die Zusammenarbeit durch die Mäzenin Elizabeth Sprague Coolidge, die ihr Vermögen dazu einsetzte, vor allem neue Kammermusik zu fördern. Auch Appalachian Spring war zunächst als Ballett für nur 13 Instrumente geschrieben, wurde in dieser Fassung 1944 in Washington uraufgeführt und mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Ein Jahr später instrumentierte Copland die Musik für größeres Orchester und stellte davon eine Suite zusammen, die seitdem fester Bestandteil des amerikanischen Repertoires ist. Den Titel hatte Martha Graham erfunden – sie war der Meinung, dass sich im Landstrich der Appalachen die »Wurzeln des amerikanischen Volks« befänden. Dieses Gebirge gilt als das Kernland des Pioniergeistes.

Das Ballettszenario beschreibt in Coplands Worten »ein Fest der ersten Siedler im Frühling rund um eine neue Farm in Pennsylvania Anfang des 19. Jahrhunderts«. Die Hauptfiguren sind eine Braut und ihr Bräutigam, die Nachbarn und ein Prediger. Die acht Abschnitte der Suite geben einen Einblick in das Leben des jungen Paares auf der Farm (und da das Ganze im Frühling spielt, hat der »Spring« doch wieder seine zweite Bedeutung gewonnen). Nach der ruhigen Einleitung treffen wir auf das Brautpaar. Der Prediger ergreift das Wort, Square Dance und Fiddler-Musik spielen zum Tanz auf. Der berühmteste Abschnitt ist der vorletzte: die Variationen über »The Gift to be Simple«, eine Melodie der Shaker. Diese christliche Glaubensgemeinschaft, eine Abspaltung der Quäker, verschrieb sich besonderem Fleiß und hoher Bildung, weshalb sie an der Ostküste des 19. Jahrhunderts eine wohlhabende und einflussreiche Bevölkerung hervorbrachte. Ihren Namen leiten die Shaker tatsächlich von »to shake« (schütteln) ab, da sie den Schütteltanz als Gebetsform praktizierten. Auch das mag Copland dazu inspiriert haben, diese schlichte, schöne Melodie für ein Ballett zu verwenden.

Am Ende wird das Paar »ruhig und stark in ihrem neuen Haus« zurückgelassen. Und eine Losung der Shaker, »Die Hände bei der Arbeit, die Herzen bei Gott«, dürfte wohl auch über der Tür dieser Farm stehen. Gedämpfte Streicher spielen eine choralartige Weise und die Stimmung des Beginns wird wieder aufgegriffen. Ruhig wie der Tag begann, geht er zu Ende.