Autor: Ilona Schneider

Entstehungszeit: 1871-1872
Uraufführung: 26. Oktober 1873 im Großen Musikvereinssaal, Wien durch die Wiener Philharmoniker unter der Leitung des Komponisten im Rahmen der Schlussfeier der Weltausstellung
Dauer: 65 Minuten

  1. Allegro. Ziemlich schnell
  2. Scherzo
  3. Trio
  4. Adagio
  5. Finale

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 27. Oktober 1902, Dirigent: Arthur Nikisch

»Unsinn!« Das Urteil, das der Hofoperndirigent Otto Dessoff in aller Selbstherrlichkeit aussprach, während er in einer »Novitätenprobe« der Wiener Philharmoniker im Herbst 1872 Anton Bruckners neuestes symphonisches Werk in Ohrenschein nahm, war so knapp wie unmissverständlich. Für den sensiblen Komponisten war es ein herber Rückschlag – einer von vielen. Erst vor ein paar Jahren war er nach Wien gezogen, um ein neues Kapitel in Leben und Arbeit aufzuschlagen. Eines war ihm jedoch längst klar: Sich in Wien der Konzertöffentlichkeit zu stellen, hatte einen ähnlichen Charakter wie der sprichwörtliche Sprung ins Haifischbecken. Aufgrund seiner provinziellen Herkunft, die man offenkundig schon an seinem Kleidungsstil ablesen konnte, stempelte man Bruckner als einfachen Landmenschen, als naiven »Musikanten Gottes« – »halb Genie, halb Trottel«. Und aus den Zeitungen erfuhr Bruckner bald, er habe angeblich ein absolutes »Unvermögen nach den Gesetzen musikalischer Logik zu denken«. Oder er las: »Bruckner componirt wie ein Betrunkener«. Nicht zu vergessen die giftige Galle, die Kritikerpapst Eduard Hanslick spuckte, als er nach der (sehr erfolgreichen) Uraufführung von Bruckners Achter Symphonie schrieb: »Es ist nicht unmöglich, dass diesem traumverwirrten Katzenjammer die Zukunft gehört – eine Zukunft, die wir nicht darum beneiden.«

Doch bei aller Sensibilität und Verletzlichkeit: Bruckner war ein Stehaufmännchen – zeitlebens. Auch von dem unerfreulichen Zusammentreffen der Wiener mit seiner Zweiten Symphonie ließ er sich nicht unterkriegen. Genaugenommen war es allerdings schon seine vierte Symphonie. Vorangegangen waren eine Studiensymphonie, seine offizielle Erste Symphonie sowie die »Annullierte«, die er später für »ungültig« erklärte. Bruckner nahm sich Dessoffs Urteil zu Herzen, vollkommen aus der Bahn warf es ihn aber nicht. Ein Jahr nach der Abfuhr mietete er sich kurzerhand die Wiener Philharmoniker und brachte sein Werk in Eigenregie und unter eigenem Dirigat selbst zur Uraufführung.

Das Publikum war aus dem Häuschen, die Kritiker hingegen zeigte sich irritiert. Gemessen an dem, was man an Symphonien seinerzeit zu hören bekam, musste Bruckners Herangehensweise tatsächlich verwirren: Wie sich weitschweifend und scheinbar ziellos im ersten Satz drei Hauptthemen erheben, winden und klarmachen, dass es den einen Fluchtpunkt, auf den hin sich alles ausrichtet, mit Bruckner nicht mehr geben wird. Wie eine in der ganzen Symphonie wiederkehrende beklemmende Trompetenfanfare im markanten »Bruckner-Rhythmus« von Duolen und Triolen mehr Rätsel aufgibt als Halt bietet. Und nicht zuletzt: Wie immer wieder gewaltige Steigerungen jäh abbrechen, kurz vor dem Abgrund eine Vollbremsung machen und das Publikum in ohrenbetäubende Stille stürzt. »Pausensymphonie« spotteten die Zeitgenossen wegen der zahlreichen Generalpausen. Der gründlichen Revision, die Bruckner 1876/77 vornahm, fielen viele dieser spannungsreichen Leerstellen zum Opfer. In der Urfassung dürfen sie ihre verstörende Wirkung aber noch voll entfalten. Derartige Zerrissenheit und Hintergründigkeit ließen sich in Bruckners eigener Zeit offenbar nur schwer aushalten. Jemand wie Hanslick beleidigte ihn lieber.