Entstehungszeit: 1887-1896
Uraufführung: 11. Februar 1903 in Wien mit dem Orchester des Wiener Concertvereins, Dirigent: Ferdinand Löwe
Dauer: 60 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 26. Oktober 1903; Dirigent: Arthur
Nikisch
Es sei »ein hochbedeutendes, aber ganz eigenartiges Werk«, resümierte am 28. Oktober 1903 der Musikkritiker der Vossischen Zeitung. »Hoffentlich begegnen wir dieser neunten Symphonie Bruckners jetzt häufiger in den Konzertsälen.« Zwei Tage zuvor hatten die Berliner Philha die »mit Spannung erwartete« deutsche Erstaufführung von Bruckners letzter, »unvollendet gebliebener« Symphonie gespielt. Am Pult stand Arthur Nikisch, seit 1895 Chefdirigent des Orchesters. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Hans von Bülow war der geborene Ungar ein leidenschaftlicher Fürsprecher des umstrittenen Komponisten. Er sorgte dafür, dass Bruckners Neunte Symphonie schon wenige Monate nach der Wiener Uraufführung in Berlin zu hören war, dirigierte das Werk auch in der folgenden Saison und legte in seiner 27-jährigen Chefdirigentenzeit den Grundstein für die bis heute anhaltende Bruckner-Tradition der Berliner Philharmoniker.
Dass die Symphonie Nr. 9 erst sechseinhalb Jahre nach Bruckners Tod Eingang ins Konzertleben fand, hängt mit ihrer besonderen Genese und Gestalt zusammen. Fast ein Jahrzehnt beschäftigte sich der skrupulöse Komponist mit seinem letzten symphonischen Werk – eine selbst für Bruckner ungewöhnlich lange Zeit. Bereits im Spätsommer 1887 begann er mit ersten Skizzen, doch kurz darauf stürzte ihn ein Brief von Hermann Levi in eine tiefe Krise. Er sehe sich nicht in der Lage, die soeben vollendete Symphonie Nr. 8 uraufzuführen, schrieb der Bruckner an sich wohlgesonnene Dirigent: »Ich habe Stunden, ja tagelang über der Partitur gesessen, aber ich bin dem Werke nicht näher gekommen. … vielleicht lässt sich durch eine Umarbeitung viel erreichen.« Bruckner folgte Levis Aufforderung. In den folgenden Jahren revidierte er neben der Achten auch noch einige andere Symphonien, schrieb mehrere Gelegenheitswerke und nahm vermutlich erst Anfang 1892 die Arbeit an der Neunten wieder auf. Obwohl sich sein Gesundheitszustand zunehmend verschlechterte, gelang es ihm bis Ende 1894, die ersten drei Sätze fertigzustellen. Im Frühling 1894 begann er mit der Komposition des Fragment gebliebenen Finalsatzes, nur die Exposition ist in Partitur ausgeführt, der Rest in Skizzen, was ihn bis kurz vor seinem Tod im Herbst 1896 nicht losließ.
Die Veröffentlichung und Uraufführung der Symphonie übernahm der Dirigent Ferdinand Löwe, ein Schüler Bruckners. In den Jahren nach dem Tod seines einstigen Lehrers überarbeitete er die Partitur, nahm auf der Grundlage seiner eigenen Vorstellungen tiefgreifende Veränderungen in der Instrumentation vor, entschärfte stellenweise die kühne Harmonik und publizierte die vollendeten Sätze der Symphonie 1903, ohne seine Revisionen als solche kenntlich zu machen. Über fast drei Jahrzehnte erklang die Neunte in dieser stark bearbeiteten Fassung. Erst im April 1932 wurde das Werk in München in seiner »originalen« Gestalt präsentiert und zwei Jahre darauf in einer Neuedition der Partitur vorgelegt.
In seinem gedankenreichen Buch über Musik und Abschied konstatiert der Musiker und Musikschriftsteller Peter Gülke, es sei ein »Privileg der Alten«, sich von der Mitwelt lösen zu können und in keinem Konkurrenzverhältnis mehr zu stehen: »Bruckner komponierte die Neunte Symphonie in der Gewissheit, die mit Öffentlichkeit verbundenen Risiken nicht mehr gewärtigen zu müssen, von Kompromissvorschlägen wohlmeinender Freunde verschont zu bleiben.« Tatsächlich ist Bruckners Neunte ein extremes Werk. Die drei vollendeten Sätze führen die in den vorherigen Symphonien entwickelten formalen und dramaturgischen Konzepte zwar weiter, radikalisieren diese aber zugleich und erschließen so neue Klang- und Ausdrucksbereiche. Deutlich wird dies bereits an den Satzanfängen. Im monumentalen Kopfsatz zieht sich der Prozess der »Entstehung« des gewaltigen, vom gesamten Orchester im Unisono vorgetragenen Hauptthemas über rund zweieinhalb Minuten. Das an zweiter Stelle stehende gespenstische Scherzo beginnt gleichsam mitten im Geschehen nach einem Pausentakt auf einem dissonanten Klang. Und das abgründige Adagio wird von einer zunächst unbegleiteten, von hochexpressiven melodischen Sprüngen geprägten Kantilene in den Ersten Geigen eröffnet – ein Unikum in Bruckners Symphonik. Die existentielle Wucht und Kompromisslosigkeit dieses letzten vollendeten symphonischen Satzes spiegelt sich in den hochgradig dissonanten Klangtürmen, die bereits nach wenigen Takten erstmals zu hören sind und auf dem Höhepunkt des Adagios vom gesamten Orchester ins Katastrophische gesteigert werden.