Entstehungszeit: 1903-1905
Uraufführung: 15. Oktober 1905 in Paris mit dem Orchestre Lamoureux unter der Leitung von Camille Chevillard
Dauer: 25 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 9. November 1918, Dirigent: Selmar Meyrowitz
1889 besuchte der 27-jährige Claude Debussy die Pariser Weltausstellung und begegnete dort erstmals der außereuropäischen Musik. Er war fasziniert! Vor allem die asiatischen Gamelan-Ensembles beeindruckten ihn zutiefst. Debussy stellte sich vor, dass diese fernen Völker die Musik so selbstverständlich erlernt hätten wie das Atmen: »Ihr Konservatorium ist der ewige Rhythmus des Meeres, ist der Wind in den Bäumen, sind tausend kleine Geräusche, die sie aufmerksam in sich aufnehmen, ohne je in tyrannische Lehrbücher zu schauen«, glaubte er.
Die Regelwerke der zentraleuropäischen Musik ließen ihn dagegen kalt. Wozu brauchte man eine Sonatenhauptsatzform? Ganz und gar sinnlos fand Debussy so etwas. Lieber nahm er sich die Natur zum Vorbild für sein Komponieren: »Man muss durch offene Fenster auf den freien Himmel schauen«, forderte er. Und mit Blick auf Beethoven wurde er sogar polemisch: »Den Sonnenaufgang zu betrachten ist viel nützlicher als die ›Pastoralsymphonie‹ zu hören.«
Eine Beobachtung des Sonnenaufgangs steht auch am Anfang von La Mer, entstanden zwischen 1903 und 1905. Die erste dieser drei symphonischen Skizzen versah Debussy mit der Überschrift »Vom Morgengrauen bis zum Mittag auf dem Meer«. Sie beginnt im Pianissimo, mit geheimnisvoll verschatteten Klängen, die das Morgengrauen symbolisieren. Je höher die Sonne aber steigt, desto dichter und kraftvoller wird der Tonsatz. Am Ende, in der Coda, hat Debussy das gleißende Licht der Mittagshitze erreicht und führt das volle Orchester zur dynamischen Entladung. Dabei bringt er die bisher so volatile Harmonik auf den festen Grund der Tonart Des-Dur und präsentiert mit Schlaginstrumenten wie dem Becken und dem Tamtam, einem riesigen Metallgong, Anklänge an die asiatische Musik, die er auf der Weltausstellung bestaunt hatte.
Im zweiten Satz, dem »Spiel der Wellen«, zeichnet Debussy die funkelnde Wasseroberfläche mit Trillern und Tonrepetitionen nach. Er nutzt Glissandi und schnelle Läufe, um die schäumende Gischt in Szene zu setzen, und lässt die Wogen mit Tanzrhythmen auf- und absteigen. Dabei verzichtet er auf eine thematische Verarbeitung, wie man sie aus der klassischen Tradition kennt. Lieber reiht er lose Motiv an Motiv, und keines gleicht dem anderen. Ganz so, wie auch keine einzige Welle identisch mit einer anderen ist. Auf diese Weise entsteht ein vielfältiger, wogender Organismus, ein wahrer Ozean aus Klängen.
Debussy muss das Meer als Urgewalt empfunden haben. Weshalb er im dritten Satz, im »Dialog zwischen dem Wind und dem Meer«, enorme Kräfte entfesselt. Einerseits stimmt er chromatische Melodien an und sequenziert sie wie Richard Wagner, indem er sie auf immer neuen Tonstufen wiederholt. In diesen Momenten erinnert der Satz fast schon an ein romantisches Seestück.
Andererseits aber verwendet Debussy auch asiatische Fünftonleitern und bringt erneut Gamelan-Instrumente zum Einsatz. Dann klingt La Mer nicht bloß wie ein Gespräch zwischen den Elementen, sondern wie ein Brückenschlag vom Bayreuther Festspielhaus zu den Tempeln auf Java. Diese Symbiose war Debussys Antwort auf die Frage nach der musikalischen Zukunft. Mit La Mer hat er die Musik in eine neue Freiheit entlassen.