Entstehungszeit: 2024
Uraufführung: am 09. Januar 2025 mit den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Tugan Sokhiev
Dauer: 23 Minuten
Als Teenager habe er immer davon geträumt, Schriftsteller zu werden, hat Donghoon Shin einmal erklärt. Und auch wenn der 1983 geborene Südkoreaner sich später für die Musik entschied – die Liebe zur Literatur ist geblieben. Ob Georg Trakl, William Butler Yeats und vor allem Jorge Luis Borges ‒ zahlreiche seiner meist sehr farbigen und kontrapunktisch durchgearbeiteten Kompositionen wurden von literarischen Werken inspiriert. Das gilt auch für Threadsuns für Viola und Orchester – Shin spricht ganz bewusst nicht von einem Bratschenkonzert. »Threadsuns« ist die englische Übersetzung von »Fadensonnen«, einem der bekanntesten Gedichte Paul Celans aus seinem Band Atemwende.
In dem kurzen Gedicht, das musikalische Assoziationen geradezu heraufbeschwört, ist von einem »Lichtton« die Rede und von Liedern, die noch zu singen seien »jenseits der Menschen«. Das sind Anknüpfungspunkte, die Shin in seinem neuen Werk für Bratsche und Orchester aufgegriffen hat – von »komplexen Emotionen« spricht der Komponist in diesem Zusammenhang. Der Ton sei »traurig, aber nicht weinerlich, klagend, aber nicht heulend, verzweifelt, aber nicht ohne Hoffnung«. Die düster-melancholische Stimmung des Gedichts hat Shin für sich mit der Tonart Des-Dur und dem Timbre der Viola in Verbindung gebracht, und aus dem Kontrast dieses Akkords mit dem weit entfernten A-Dur hat er eine melodische und harmonische Zelle entwickelt, die den Kern des Werkes ausmacht. Trotz dieser tonalen Bausteine ist Threadsuns weit entfernt von einer traditionellen Harmonik – modale, tonale und atonale Elemente bilden ein Gleichgewicht, das dem Werk seinen besonderen Charakter verleiht.
Das zweisätzige Werk folgt der klassischen Form des Sonatensatzes, wobei der erste Satz der Exposition und der attacca folgende zweite Satz der Durchführung und Reprise entspricht. Der Kopfsatz beginnt mit einem ausgedehnten, kantablen Solo der Bratsche, bevor andere Instrumente kontrapunktisch hinzutreten. Wie eine Arie entfaltet sich daraufhin das Hauptthema. Immer wieder findet sich in dem Satz die Vortragsbezeichnung »singend«, und es kommt zu aparten Dialogen, etwa zwischen Soloinstrument und Kontrafagott. Erst mit dem Einsatz des zweiten Themas ändert sich der Charakter; »Scherzando, anmutig, aber etwas sarkastisch« lautet hier die Spielanweisung, wobei der Orchestersatz sich zunehmend verdichtet und in der raschen Bewegung auch Walzeranklänge zu hören sind. Zu Beginn des zweiten Satzes eröffnet eine furiose Variante der Bratscheneinleitung die Durchführung, die in ganz klassischer Weise Materialien des ersten Satzes verarbeitet, umformt, in Tempo oder Harmonik variiert oder kontrapunktisch umspielt. Die Reprise bringt nicht nur eine überraschende Wendung zu reinem A-Dur, sondern Soloinstrument und Orchester erscheinen plötzlich auch als Einheit. Unisono mit den Geigen intoniert der Solist das sangliche Hauptthema, bevor das Werk im vierfachen piano ausklingt, »als würde der Tod eines Menschen beklagt«, so der Komponist.