Entstehungszeit: 1909-1910
Uraufführung: 10. November 1910 in der Queen’s Hall, London
mit dem London Philharmonic Orchestra unter der
Leitung des Komponisten, Violine: Fritz Kreisler
Dauer: 50 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 8. Januar 1912 mit dem Geiger Eugène
Ysaÿe, Dirigent: Arthur Nikisch
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war Edward Elgar angekommen: von König Edward VII. zum Sir geadelt, von den Universitäten in Oxford und Cambridge zum Ehrendoktor ernannt und in der ganzen Welt bekannt, ja berühmt. Rund zwei Jahrzehnte zuvor hatte er bereits begonnen, ein Violinkonzert zu schreiben, war aber nicht zufrieden gewesen und hatte die Entwürfe vernichtet. Der Geigenvirtuose Fritz Kreisler ließ Elgar das Vorhaben wieder hervorholen. Kreisler hatte den Komponisten 1905 in einem Zeitungsartikel in eine Reihe mit Beethoven und Brahms gestellt und seine Würdigung mit den Worten geschlossen: »Ich wünschte, Elgar würde etwas für die Violine schreiben.« Wenige Wochen später skizzierte Elgar erste Ideen für ein Violinkonzert, zu dem ihm 1909 die Londoner Philharmonic Society einen formellen Kompositionsauftrag erteilte. Elgar wusste als Geiger, wie man für dieses Instrument schreiben kann; dennoch holte er sich Rat bei seinem Freund William H. »Billy« Reed, dem Konzertmeister des London Symphony Orchestras. Nach einer privaten Probeaufführung, bei der Reed den Violinpart übernahm und der Komponist ihn am Klavier begleitete, wurde das Stück mit Kreisler in der Queen’s Hall uraufgeführt. Die Opuszahl 61 war vermutlich kein Zufall: Elgar dürfte es ganz bewusst so arrangiert haben, dass seinem einzigen Beitrag zu dieser Gattung dieselbe Ordnungsnummer zukam wie demjenigen Ludwig van Beethovens, war er doch ein großer Bewunderer der deutschen Musik.
Das dreisätzige Werk gehört zu den längsten Violinkonzerten des Repertoires und dauert reichlich über eine Dreiviertelstunde. Zwei besondere Begabungen Elgars kommen in ihm zum Tragen: Seine Fähigkeit, prägnante Themen zu erfinden, und sein Sinn dafür, diese Themen weiterzuentwickeln, sie subtil zu verändern, untergründige Verwandtschaften zu stiften. So wiederholt sich in diesem gewaltigen Werk praktisch nichts, kein Takt gleicht exakt dem anderen, und doch stellt sich der Eindruck großer Geschlossenheit ein. Der erste Satz folgt der Sonatensatzform mit vielsagenden Abweichungen. Das zunächst recht wuchtig vom Orchestertutti präsentierte erste Thema wird gleich darauf durch weitere Gedanken ergänzt, die eine wichtige Rolle spielen. Die vier ersten Noten des Hauptthemas prägen, immer wieder anders rhythmisiert, den ganzen Satz, ebenso wie der Sekundschritt als Intervall fast alle Themenanfänge kennzeichnet. Die Solovioline setzt statt mit Grandezza gleichsam in Gedanken in tiefer Lage (»nobilmente« lautet die Vortragsanweisung) und erst mit der zweiten Phrase des Hauptthemas ein, nachdem das Orchester die erste erneut angestimmt hat. Auf diese Weise kommt das Soloinstrument wie jemand ins Spiel, der sich mit Bedacht in ein schon länger andauerndes Gespräch einklinkt – und verleiht dem orchestral so mächtig dargebotenen Thema einen gänzlich anderen, kontemplativen Ausdruck: nur eines von vielen Beispielen, wie Elgar mit wenigen geänderten Parametern eine tiefgreifende Wandlung im Charakter seiner Themen erzielt.
Auch im Andante begegnet den Hörerinnen und Hörern die Verwandtschaft des Verschiedenen, Ähnlichkeit noch in den Gegensätzen. Auch hier wird das vom Orchester vorgestellte Hauptthema vom Soloinstrument nicht so sehr wiederholt, als dass es sich ihm zugesellt, indem die Geige kontrapunktisch eine Art Komplementärmelodie spielt. Die Varianten, mit denen Themen umspielt, bereichert, verfremdet werden, sind unerschöpflich. Durch Synkopen erhalten die Themen einen biegsamen, vorwärtsweisenden Zug: Nie steht die Musik auf der Stelle. Im hochvirtuosen Finale behandelt Elgar die Geige als Erzähler, der mal nachdenklich-weise auftritt und mal von seiner eigenen überbordenden Fantasie mitgerissen wird. Den Höhepunkt findet diese Reise in der Cadenza accompagnata des Finales: eine Kadenz nicht nur zum Schlusssatz, sondern zum ganzen Konzert.