Entstehungszeit: 1825-1826
Uraufführung: 21. März 1839 in Leipzig mit dem Gewandhausorchester
unter der Leitung von Felix Mendelssohn
Bartholdy
Dauer: 50 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 5. März 1883, Dirigent: Ernst Rudorff
Im März 1824 erfuhr Franz Schubert, dass der berühmte Kollege Ludwig van Beethoven demnächst eine neue Symphonie uraufführen wolle, seine Neunte, und dass dieses Werk alles übertreffen werde, was man je gehört habe. Schubert war elektrisiert! »Wenn Gott will, so bin auch ich gesonnen, künftiges Jahr ein ähnliches Concert zu geben«, schrieb er an einen Freund. Tatsächlich nahm Schubert im Frühling 1825 seine »Große« C-Dur-Symphonie in Angriff und konnte sie im Folgejahr auch abschließen. Es gelang ihm allerdings nicht, sie zur Aufführung zu bringen. Die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, der Schubert die Partitur geschickt hatte, ließ das Werk kurz ausprobieren, lehnte es dann aber sogleich wegen seiner Länge und Schwierigkeit ab. Und so wurde es März 1839, bis Schuberts Werk erstmals erklang – mehr als zehn Jahre nach seinem Tod. Zu verdanken war das Robert Schumann, der im Januar zuvor Schuberts Bruder Ferdinand in Wien besucht und dort eine Abschrift im Nachlass entdeckt hatte. Schumann schickte den Sensationsfund an Felix Mendelssohn Bartholdy nach Leipzig, und der hob die »Große« mit dem Gewandhausorchester aus der Taufe.
Vom Umfang her bleibt Schuberts C-Dur-Symphonie keinen Schritt hinter Beethovens Neunter zurück. Schon Schumann sprach von »himmlischen Längen« und verglich das Werk mit einem »Roman in vier Bänden«. Der Klangcharakter, die Botschaft und die Besetzung sind allerdings fundamental anders als bei Beethoven. Schubert braucht keinen Chor und keine Solostimmen, um in Neuland vorzustoßen; er verkündet auch keine politische Vision wie Beethoven mit der Utopie der Menschheitsverschwisterung in seinem »Freudenfinale«. Weniger ergreifend ist Schuberts symphonisches Schlusswort darum keinesfalls. Denn er richtet den Blick auf das Individuum, in die rätselhaften Tiefen der Seele, und entwirft ein musikalisches Psychogramm zwischen Traum und Wirklichkeit, Hoffnung und Abgrund.
Alles beginnt mit einer langsamen Einleitung und den Hörnern, die das Motto vorgeben: Der punktierte Rhythmus und das zentrale Intervall der Terz liefern dabei die Keimzelle, aus der sich fast alle weiteren Themen der vier Sätze ableiten. Die Musik befindet sich von Anfang an in ewigem Fluss, ein Motiv schält sich aus dem anderen heraus. Man könnte sogar glatt die Schnittstelle zwischen der Introduktion und dem schnellen Hauptteil des Kopfsatzes überhören, so organisch wirkt alles. Und deshalb erscheinen auch die drei Themen, die Schubert dort präsentiert, nicht als Kontraste, sondern eher als Mutationen.
Schubert liebt seine musikalischen Gedanken. Er wiederholt sie ein ums andere Mal, noch und noch einmal – manchmal könnte man fast denken, in einer Endlosschleife gelandet zu sein. Aber dann kommen plötzlich diese jähen Abstürze, der ungeschützte Fall ins Bodenlose. Etwa im zweiten Satz, den Schubert im marschierenden Wanderer-Rhythmus eröffnet; als Gegenpol erklingt eine beseligt fließende Melodie. Bis das Orchester gegen Ende auf einem dissonanten, schreienden Fortissimo-Akkord schier endlos stehenbleibt – und dann verstummt. Es folgt eine lange Generalpause, nach der sich die Celli als erste ganz langsam, zögerlich, ja fast schon verängstigt wieder zu Wort melden. Die Welt nach der Katastrophe.
Dieser Moment fährt einem in Mark und Bein, man vergisst ihn nicht mehr, auch wenn es in den beiden Schlusssätzen fröhlicher zugeht. Etwa im rustikalen Tanz des Scherzos oder in den Ländler-Melodien des Trios, wo Schubert seinen Glücksträumen nachzuhängen scheint. Im Finale aber stürmt er in einem wilden Ritt davon. Doch bleibt die Frage: Ist das nun wirklich Euphorie, oder ergreift da nicht eher jemand die Flucht, rennt vor etwas davon? Die Besessenheit der fast schon schmerzhaft repetierten Rhythmen und Tonfolgen offenbart den doppelten Boden dieser Musik, in der Freud und Leid, Überschwang und Verzweiflung so nah beieinander liegen.