Entstehungszeit: 1899-1901
Dauer: 54 Minuten
Jede\n der zehn Symphonien von Gustav Mahler bildet eine Welt für sich und ist doch\n zugleich mit allen anderen in verschiedenen Hinsichten verbunden –\n entstehungsgeschichtlich, thematisch-motivisch oder programmatisch. So erklärte\n der Komponist einmal, im ersten Satz der Zweiten Symphonie werde niemand\n anderes als der Held der Ersten Symphonie zu Grabe getragen. In der Zweiten\n Symphonie wird der Weg der menschlichen Seele vom Tod bis zur Auferstehung\n ausgeschritten, in der Dritten wird er in die Zyklen der Natur eingebettet. Das\n Lied Das himmlische Leben, basierend\n auf einem Gedicht aus der Liedsammlung Des\n Knaben Wunderhorn, wanderte aus der Konzeption der Dritten Symphonie in die\n Endgestalt der Vierten, deren Finale es bildet. Mahler selbst hat seine ersten\n vier Symphonien als eine »durchaus in sich geschlossene Tetralogie« bezeichnet.
Im\n Vergleich zu den beiden vorausgegangenen monumentalen Gattungsbeiträgen ist die\n im Jahr 1901 uraufgeführte Vierte Symphonie deutlich kürzer und in der\n Instrumentation schlanker. Vor allem aber scheint sie durch ihre Viersätzigkeit\n unmittelbar an die klassisch-romantische Tradition anzuknüpfen. Allerdings: Ein\n Orchesterlied als Finale hatte es in der Geschichte der Gattung noch nicht\n gegeben. Und während eine klassische Symphonie auf den letzten Satz zuläuft,\n hat Mahler sein Werk sozusagen von hinten aufgezogen: Er hat die Vierte\n Symphonie aus dem Lied Das himmlische\n Leben entwickelt, das er bereits 1892 komponiert hatte. Es gibt zahlreiche\n thematische Querbezüge in der Symphonie, beispielsweise das lustig lärmende\n Schellenmotiv, mit dem die Vierte Symphonie beginnt und das im letzten Satz zwischen\n den Strophen erscheint.
In\n der Konzeptionsphase hat Mahler das Werk als »symphonische Humoreske«\n bezeichnet. Damit zielte er nicht auf Komik und Witz ab, sondern sah sich in\n der romantischen Tradition der Ironie, wo Stimmungen und Gedanken durch Ambivalenzen\n in der Bedeutung jederzeit in ihr Gegenteil umkippen konnten. So mag das\n musikalische Material, das im ersten Satz verarbeitet wird, auf den ersten\n Blick heiter und unproblematisch wirken. Doch schnell gerät die Musik durch die\n undurchdringliche Verstrickung der Motive an den Rand des Chaos.
»Mystisch,\n verworren und unheimlich, daß euch dabei die Haare zu Berge stehen werden«\n nannte Mahler das Scherzo des zweiten Satzes, in dem eine um einen Ganzton nach\n oben gestimmte Sologeige grell und grob zum Totentanz aufspielt. Doch im\n folgenden Adagio und durch die unvergleichliche Schönheit seines ruhevollen\n Gesangs werde deutlich, dass alles »so bösʼ nicht gemeint war«.
Ein\n ähnlicher Kontrast kennzeichnet den letzten Satz, der sichrückwirkend als thematische\n Keimzelle des gesamten Werks entpuppt. Am Ende jeder Strophe steht eine kurze\n Choralmelodie, gefolgt von drastischen Variationen des Schellenmotivs aus dem\n ersten Satz. Zwar ist auch die in aller Naivität vom Sopran vorgetragene\n Schwärmerei des Himmlischen Lebens über\n die unbegrenzten kulinarischen Genüsse im Himmel zweifellos »nicht bösʼ\n gemeint«; dennoch ist diese Vision nicht frei von Grausamkeit. »Wir führen ein\n liebliches Lämmlein zu Tod« und ein Ochse wird »Ohn’ einig’s Bedenken und\n Achten«, also erbarmungslos, geschlachtet. Ob die Musik am stillen Schluss des\n Werkes in die Seligkeit des Himmlichen\n Lebens verdämmert oder in ihrer erstaunlichen Beiläufigkeit das Publikum in\n die Ungewissheit entlässt? »Morendo« (ersterbend) jedenfalls heißt die letzte\n Vortragsanweisung in Gustav Mahlers Vierter Symphonie.