Autor*in: Kerstin Schüssler-Bach

Entstehungszeit: 1926-1926
Uraufführung: 11. November 1926 im Teatro Lírico, Rio de Janeiro, durch das Grande Orquestra da Empresa Viggiani, den Coro de artistas brasileiros und den Deutschen Männerchor unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 13 Minuten

  1. Animé

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 27. September 1956 unter der Leitung von Eleazar Carvalho und mit dem Chor der St. Hedwigs- Kathedrale

Im Unterholz der brasilianischen Regenwälder lebt der Stahlbischof. Das ist nicht etwa ein geistlicher Industriemagnat, sondern eine etwa 17 cm große Vogelart, dessen Männchen mit leuchtend blauschwarzem Gefieder aufwarten. Diesem exotischen Kernbeißer setzte Brasiliens Nationalkomponist Heitor Villa-Lobos ein klingendes Denkmal. Der Gesang des Stahlbischofs, auf Portugiesisch azulão da mata, ist gleich am Anfang seines Chôros Nr. 10 in der Flöte zu hören. Auch danach mischen sich verschiedene Vogelstimmen aus Amazonien in das symphonische Geschehen und schaffen eine ganz eigene Atmosphäre. Die Sammlung der 14 Chôros gehört neben den Bachianas Brasileiras zu den bekanntesten Kompositionen von Villa-Lobos. In seiner Geburtsstadt Rio de Janeiro wuchs er mit der typischen Straßenmusik auf, dem sogenannten »Chôro«: einer Mischung aus der Volksmusik europäischer Einwanderer und der Musik der afrikanischen Sklaven. In seiner Jugend spielte er in umherziehenden Musiktheater-Ensembles sogar als Gitarrist mit. Später veredelte Villa-Lobos die Melodien und Rhythmen des Chôro in seinen Stücken für unterschiedlichste Besetzung, von der Sologitarre bis zum Einsatz eines Chors und großen Orchesters in der Nr. 10. Auf zahlreichen Reisen durch Brasilien lernte er außerdem indigene Musik und verschiedene Folklore-Stile kennen.

Ein prägendes Erweckungserlebnis für Villa-Lobos‘ musikalische Handschrift waren die Gastspiele der berühmten Ballets Russes, durch die Musik Igor Strawinskys kennenlernte. 1923/24 studierte er in Paris – zur gleichen Zeit wie Aaron Copland – und vertiefte seine Kenntnisse. Als er nach Rio zurückkehrte, wurde er bald der einflussreichste Musiker seines Landes, ja des ganzen südamerikanischen Kontinents, der in der Verschmelzung von brasilianischen Volks- und Folkloreelementen mit der europäischen Tradition seine Mission fand. 1926 wurde der Chôros Nr. 10 in einem Konzert zu Ehren des brasilianischen Präsidenten Washington Luís in Rio de Janeiro unter Leitung des Komponisten uraufgeführt. Neben dem Coro de artistas brasileiros wirkte auch der Deutsche Männerchor mit. Zunächst geht die Wanderung durch eine rein orchestrale Landschaft mit einzelnen Streiflichtern aus Melodiefragmenten, Vogelsang und Rhythmusgebilden, die etwas anzukündigen scheinen. Schließlich formt sich aus all diesen Elementen ein gewaltiger, mitreißender, stampfender Rhythmus. Der Chor setzt mit lautmalerischen Silben ein (ja-ka-tá ka-ma-ra-já), die Villa-Lobos zwar auf die Inkasprache zurückführte, aber durch die explosiven Konsonaten eher wie eine menschliche Rumbarassel wirken. Darüber legt sich bald eine melancholische Melodie, die bei dem eine Generation älteren brasilianischen Komponisten Anacleto Augusto de Medeiros ausgeliehen wurde. Zu ihr singt der Chor das Gedicht Rasga o coração von Catulo da Paixão Cearense, das dem Schmerz und Leid des Menschen die »Unermesslichkeit des Himmels und des Meeres« gegenüberstellt: Der schwermütige Gesang trifft auf den Überschwang der Natur, der Stadtraum auf den Regenwald.