Entstehungszeit: 1905-1906
Uraufführung: 29. Dezember 1906 im St. Petersburger Mariinski-Theater unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 13 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 3. Januar 1908, Dirigent: Ferruccio Busoni
1828 begann der finnische Schriftsteller und Philologe Elias Lönnrot durch seine Heimat zu wandern. Er machte Station in abgelegenen Dörfern Kareliens und ließ sich die alten Sagen erzählen, wie sie seit Jahrhunderten überliefert worden waren. Begeistert zeichnete Lönnrot sie auf und arbeitete sie zu fünfzig sogenannten Runengesängen aus, die er ab 1834 sukzessive veröffentlichte: Das finnische Nationalepos, das Kalevala, war geboren.
Jean Sibelius, zwei Generationen jünger als Lönnrot, lernte dieses »Herzstück der finnischen Kultur«, wie er es nannte, schon in seiner Schulzeit kennen. Seine grenzenlose Begeisterung dafür weckte aber erst seine spätere Frau Aino Järnefelt, eine glühende Anhängerin der finnischen Nationalbewegung. Und so begann sich Sibelius ab 1890, intensiv mit dem Epos zu beschäftigen. Angefangen mit der frühen Kullervo-Symphonie bis zu seiner letzten Tondichtung Tapiola gründen zahlreiche seiner Werke auf Lönnrots mythischen Gesängen – so auch die Tondichtung Pohjolas Tochter, die 1905/06 entstand.
Pohjola oder Pohja ist das finnische Nordland, die Heimat der Samen. Dort begegnen wir dem greisen Helden Väinämöinen, den man sich wahlweise als Zauberer, Schamanen oder Barden vorstellen darf. Mit einem Pferdeschlitten rauscht er durch den verschneiten Wald, als er plötzlich, wie in einer Vision, auf einem Regenbogen am Firmament eine anmutige junge Frau entdeckt: Pohjolas Tochter, die an ihrem Spinnrad goldene Fäden wirkt. Väinämöinen ist hingerissen, will sie sogleich zu sich holen und zur Frau nehmen. Doch die Schöne stellt Bedingungen: Erst müsse der Verehrer ihr aus den Bruchstücken einer Spindel ein Boot zimmern … Väinämöinen versucht sein Bestes, verletzt sich dabei aber schwer mit seiner Axt – und muss auf die Angebetete verzichten.
Sibelius koppelt in seiner symphonischen Fantasie zwei denkbar verschiedene Klangwelten. Väinämöinens Sphäre ist dunkel und abgründig: Über einem liegenden g-Moll-Akkord der tiefen Bläser erhebt sich zunächst ein Rezitativ im Cello, wie eine Beschwörungsformel. Fagott und Bassklarinette führen sie weiter, grundiert von Paukenwirbeln, alles sehr düster und geheimnisvoll. Doch die Musik nimmt rasch Bewegung auf, die Streicher spielen die immer gleichen Sechzehntelfiguren, als wären es Repetitive Patterns aus der Minimal Music: Ist es der Schamane Väinämöinen, der hier portraitiert wird, oder hören wir seinen durch den Schnee jagenden Schlitten?
Dann eine plötzliche Aufhellung: Sibelius wechselt ins fast grelle E-Dur und setzt mit Harfenarpeggien sowie Tremoli in den Flöten Pohjolas Tochter in Szene. Beide Welten – dunkel und hell, tief und hoch – nähern sich danach einander an; über den rasenden Repetitionen der Streicher blühen Kantilenen auf, erschallen Fanfaren. Aber schmerzhafte Dissonanzen verraten, dass diesem Paar kein Happy End vergönnt ist. In den letzten Takten entschwebt Pohjolas Tochter in den Himmel, während Väinämöinen wie erstarrt zurückbleibt, mit einer Wendung in den Celli und Kontrabässen, die morendo, also »ersterbend«, gespielt werden soll.