Autor*in: Susanne Stähr

Entstehungszeit: 2002
Uraufführung: 23. Januar 2003 in Cleveland, USA, durch das Cleveland Orchestra unter der Leitung von Franz Welser-Möst
Dauer: 25 Minuten

  1. Memento mori –
  2. Winter Sky
  3. Hunter

Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 12. September 2004, Dirigent: Sir Simon Rattle

Wer in langen Winternächten Richtung Süden in den Himmel blickt, kann dort mit bloßem Auge das auffällige Sternbild des Orion entdecken. Schon in der Bibel fand es als »Siebengestirn« Erwähnung – seinen Namen aber verdankt es der griechischen Mythologie. Dort ist Orion, der vom Meeresgott Poseidon gezeugt wurde, ein Jäger von riesenhafter Gestalt und blendender Schönheit. Als Halbgott ist er jedoch sterblich, und um seinen Tod ranken sich verschiedene Überlieferungen. 

Der Odyssee zufolge wurde er von einem Pfeil der Jagdgöttin Artemis getroffen, das Handbuch De astronomia des Gelehrten Hyginus berichtet dagegen, dass er am Stich eines Skorpions zugrunde ging. Göttervater Zeus aber, in anderen Überlieferungen auch Artemis, sorgte höchstpersönlich dafür, dass Orion am Firmament fortleben konnte und seinen himmlischen Platz unter den Göttern erhielt.

Das Sternbild und die Figur des Orion inspirierten die finnische Komponistin Kaija Saariaho 2002 zu ihrem gleichnamigen dreiteiligen Orchesterwerk. Mit Memento mori, »Gedenke, dass du sterben wirst«, hat sie den ersten Satz überschrieben: Man darf darin eine Mahnung an Orion selbst oder auch an uns alle erkennen. Die Musik dazu mutet an, als würden wir den antiken Jäger auf seiner Reise durch den Weltraum begleiten. Es sind geheimnisvolle, unwirkliche Klänge, die Saariaho entwirft, immateriell mit Glockenspiel und Harfe, aufgeraut mit tremolierenden Streichern, dazu gleichmäßige Achtel der Bläser, die einen beständigen Puls vorgeben. Nach gut drei Minuten aber kommt es zu einem wilden Ausbruch des gesamten Orchesters, das furioso und con violenza das Geschehen bis zum Satzende prägt.

An der Schwelle zur Hörbarkeit, im vierfachen piano und mit einem fragilen Solo der Piccoloflöte in höchster Höhe, eröffnet Saariaho den zweiten Satz Winter Sky, eine meditative Betrachtung des Orion-Sternbilds. Hier flimmert, flirrt und schwirrt alles: Einzelne Instrumente – Violine, Klarinette, Oboe und die gestopfte Trompete – reichen sich Melodiefloskeln weiter, das übrige Orchester stimmt eine ätherische Klangflächenmusik an, die von großem ästhetischem Reiz ist und sphärisch wirkt. Auch wenn sich zwischendurch das Klangbild verdichtet, bleibt der Charakter immer kontemplativ, die Musik hat eine impressionistische Aura. Gegen Ende gewinnt sie sogar eine surreale, jenseitige Qualität, wenn sich irisierende Streicherklänge mit dem Glockenspiel, dem Vibrafon und den Crotales, den gestimmten kleinen Becken, verbinden.

An Orions Erdenleben als Jäger erinnert schließlich das energiegeladene Finale Hunter. Schnelle Notenwerte in rasantem Tempo müssen hier gespielt werden: sempre giocoso, »immer freudig«, schreibt Saariaho vor, und einmal sogar giubiloso, »jubilierend«. Zweimal aber unterbricht sie den übersprudelnden Flow, hält inne – eine Erinnerung an die Endlichkeit des Erdendaseins? Am Schluss jedenfalls steigt das Orchester in die höchsten Sphären auf, dünnt der Klang aus. Und Orion ist wieder oben am Firmament angelangt, wo wir ihn bis heute bestaunen können. Weit entfernt und doch berührend nah.