Autor*in: Malte Krasting

Entstehungszeit: 2022
Uraufführung: 27. Juni 2023 in Tokio durch das NHK Symphony Orchestra, Dirigent: Ryan Wigglesworth
Dauer: 18 Minuten

Bei den Berliner Philharmonikern:
am 13. Februar 2025 Auftragswerk der Stiftung Berliner Philharmoniker, NHK Symphony Orchestra, Los Angeles Philharmonic, Tschechische Philharmonie und Orchestre de Paris

Superorganismen sind Daseinsformen, in denen gleichartige Lebewesen synergetisch und selbstorganisiert zusammenwirken. Sie sind mehr als die Summe ihrer Teile: Die einzelnen Mitglieder für sich wären kaum lebensfähig, in der Gemeinschaft wachsen sie weit über sich hinaus – eine »Multiplikation der positiven Kraft der Individuen«, wie der tschechische Komponist Miroslav Srnka sagt. Typische Beispiele für Superorganismen sind Ameisenvölker und Bienenschwärme. Möglicherweise steuert auch der Mensch darauf zu, sich zu einer neuen Art zu wandeln: weg vom selbständigen Homo sapiens, hin zum vernetzten Element einer größeren Gruppe. Ein schon lange existierender Superorganismus in der menschlichen Kultur sind Symphonieorchester – und hier setzt das neue Stück von Miroslav Srnka an. Seine Werke werden bei den einschlägigen Neue-Musik-Festivals gespielt und finden sich genauso auf den Programmen klassischer Konzertorchester wie Ensembles. Kirill Petrenko hat 2016 Srnkas Oper South Pole, ein abendfüllendes Drama über Amundsens und Scotts Wettlauf zum Südpol, als Auftragswerk der Bayerischen Staatsoper zur Uraufführung gebracht. Nun kreuzen sich erneut ihre Wege, mit einem neuen, gemeinsam mit einigen weiteren Orchestern von den Berliner Philharmonikern in Auftrag gegebenen Orchesterwerk. Schnell waren sich die Beteiligten einig: Es sollte in großer symphonischer Besetzung die Fülle und Vielseitigkeit des philharmonischen Apparats zur Geltung bringen, und für den Komponisten war auch klar, dass sein Stück das Wesen des Orchesterorganismus thematisieren sollte – eben mit jenem aus der Biologie stammenden, aber gleichwohl von gesellschaftlichen Beobachtungen inspirierten Gedanken.

Superorganisms besteht aus vier Teilen, die mit jeweils unterschiedlichen Settings untersuchen, wie sich Mengen bilden und Koalitionen formen, wo im »Clash des Individuellen und des Kollektiven« (Srnka) die Chancen und Risiken liegen: »Jedes Orchestermitglied hat eine eigenständige Rolle, es gibt buchstäblich Tausende von kleinen Klangpunkten, Klanglinien und Klangpfeilen. Die Streicher sind manchmal fast solistisch behandelt, erschließen sich aber erst als Gruppe.« Zwar gibt es viele kurz aufblühende Momente in einzelnen Instrumenten, sie erwachsen aber immer aus dem organischen Zusammenhang. Im ersten Teil beispielsweise entfaltet sich eine Folge von genau 1351 vierstimmigen Akkorden, die nach bestimmten Verbindungsregeln auseinander hervorgehen, als würden Vektorkräfte die Stimmen jeweils nach oben oder unten bewegen. Das betrifft die Tonhöhe ebenso wie die Parameter Klangfarbe, Instrumentenmischung und Besetzungsgröße. Manchmal springt ein Element aus der Reihe, als stoße ein Hai in einen Fischschwarm – doch kaum ist die Gefahr vorbei, beruhigt sich die Gruppe schon wieder und ergreift kollektiv Maßnahmen, um zum Ausgangszustand zurückzukehren. Gibt es eine Tendenz zur Harmonie in der Natur? Srnka begibt sich in Superorganisms auf die Suche nach der Konsonanz: nach Klängen einerseits, die zur Beständigkeit neigen und verweilen wollen, und nach Möglichkeiten andererseits, solche Akkorde in etwas Fluides zu überführen. »Je konsonanter die Intervalle sind, mit desto mehr Resonanz fließen sie ineinander; so entstehen quasi Konsonanzflecken auf dem Klangteppich.« Das Zusammenwirken der einzelnen Stimmen in ihren Gruppen verstärkt ihre Wirkungen. In der Gemeinschaft wird der einzelne nicht schwächer, sondern stärker, und die Welt im Ganzen vielfältiger.