Autor*in: Kerstin Schüssler-Bach

Entstehungszeit: 2024
Uraufführung: Kompositionsauftrag der Stiftung Berliner Philharmoniker, des Boston Symphony Orchestra und des Finnish Radio Symphony Orchestra
Dauer: 7 Minuten


Ein geheimnisvolles tiefes Summen, sanfte Wellenbewegungen, schließlich eine schmucklose Melodie in der gedämpften Trompete: Outi Tarkiainens Day Night Day ist klar wie ein Wintertag. Ihr kurzes Orchesterwerk, so die finnische Komponistin, zeige das »Licht und Eis des Nordens, die jeden Winter in das Land eindringen und das Licht des frühen Frühlings in brillanten Spektren reflektieren.« Die pendelnde Trompetenmelodie klingt wie eine eindringliche Beschwörung. 

Sie basiert auf einem Joik, dem traditionellen Gesang der Samen in Lappland. Joiken ist nicht einfach nur Singen: Es ist eine Philosophie, eine Haltung, geprägt von Spiritualität, Seele und Persönlichkeit. Ein Joik transportiert Wissen und Geschichte in der Kommunikation mit den Vorfahren über Jahrhunderte hinweg. Man joikt nicht über etwas, sondern man versetzt sich in das hinein, was man besingt – in einen Menschen, ein Tier, ein Naturereignis. Für ihre Trompetenmelodie fand Outi Tarkiainen einen Joik aus der Region um den Fluss Teno an der Grenze zu Norwegen. Sie selbst lebt – nach Aufenthalten in den USA, London und Paris – nun wieder in ihrer Geburtsstadt Rovaniemi, der Hauptstadt Finnisch-Lapplands, in unmittelbarer Nähe des Polarkreises.

Day Night Day ist ein stilles Stück, dynamisch vor allem im Pianissimo-Bereich angesiedelt, mit leisen Tremoli und Flageoletts der Streicher und Luftgeräuschen der Bläser. Sie brauche die Stille ihrer Heimat, sagt Tarkiainen: »Ich bin ein Mensch des Nordens, also ist das ein wichtiger Teil meiner Identität als Komponistin und als Persönlichkeit.« Der internationalen Ausstrahlung ihrer Musik schadet das nicht. Seit ihrem Durchbruch 2018 bei den BBC Proms erklingt diese auch in England viel. In Deutschland erregte ihre Oper A Room of One’s Own am Theater Hagen Aufsehen. Der nächste Opernauftrag aus Deutschland führt sie an das Aalto-Theater Essen. Das Werk mit dem Titel Day of Night, eine Kooperation mit der Finnischen Nationaloper, beruht auf dem als »Zauberberg der sámischen Kultur« gefeierten Roman Halla Helle des samischen Schriftstellers Niillas Holmberg. Für dieses Bühnenwerk ist, wie schon die Verwandtschaft des Titels nahelegt, Day Night Day eine Vorstudie, in der sie die musikalischen Themen der Oper ausprobiert. Tarkiainen beschließt die Komposition mit einer weiteren Hommage an die jahrhundertelang unterdrückte Kultur der Samen: dem Wiegenlied Sjamma, Sjamma aus Südlappland. Wie aus der Ferne erklingt es in der Flöte und Klarinette, bevor sich das Glitzern von Harfe, Celesta und Glockenspiel wie eine Schneedecke über den zauberischen Gesang legt. Dreihundert Wörter kennt die sámische Sprache für Schnee – einen Teil dieser Nuanciertheit reflektiert Day Night Day.