Entstehungszeit: 1909
Uraufführung: 18. April 1909 in Moskau unter der Leitung des
Komponisten
Dauer: 20 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 25. Januar 1912; Dirigent: Alexander Chessin
Mitten in unabsehbarem Gewässer eine steile Felswand, schroff aufragend wie von Riesenhand behauen, im Halbrund eine Bucht bildend und einen Hain hochgewachsener Zypressen umschließend; auf halber Höhe in den Stein geschlagene rechteckige Höhlenöffnungen, darunter ein wenig Mauerwerk; im Hintergrund bedrohliches Wolkengewirr, im Vordergrund ein von einem dunklen Fährmann geruderter Kahn, darauf ein mit weißem Tuch drapierter und von Girlanden geschmückter Sarg, vor dem eine geheimnisvolle, ganz in Weiß verhüllte Gestalt regungslos zu stehen scheint. Arnold Böcklins Toteninsel, das berühmteste Gemälde des Schweizer Symbolisten, hat nicht ohne Grund viele Komponisten inspiriert (an die dreißig Musikstücke beziehen sich darauf). Der Maler selbst meinte, »ein Bildwerk« solle »etwas erzählen und dem Beschauer zu denken geben, so gut wie eine Dichtung, und ihm einen Eindruck machen wie ein Tonstück«. Als Sergej Rachmaninow Böcklins Bild in Paris kennenlernte – zunächst in einer schwarzweißen Reproduktion, möglicherweise die von Max Klinger geschaffene Radierung –, sprach die morbide Atmosphäre ihn sofort an. Davon angeregt schuf er eines seiner charakteristischsten Orchesterwerke.
Nach manchen Enttäuschungen hatte Rachmaninow seiner russischen Heimat vorübergehend den Rücken gekehrt und sich im Herbst 1906 in Dresden niedergelassen, damals eine der ersten Adressen der internationalen Kunst- und Musikszene. An der Hofoper wurden in diesen Jahren mehrere Opern von Richard Strauss uraufgeführt. Rachmaninow hörte dort Salome »und geriet in völlige Aufregung«; Strauss sei »ein sehr begabter Mensch«, »seine Instrumentierung ist unglaublich.« Das Orchestrieren war für den vom Klavier herkommenden Komponisten stets eine Herausforderung. Im Fall der Toteninsel meinte er allerdings in der Rückschau, Anfang 1909 auf einen Schlag alles erfasst zu haben. »Beim Komponieren finde ich es von großer Hilfe, ein Buch im Sinn zu haben, ein schönes Bild oder ein Poem …. Und sie kommen: alle Stimmen zugleich. Nicht ein Stück hier, ein Stück da. Alles. Das Ganze entsteht. So die Toteninsel. Im April und Mai war alles getan. Wann es kam, wie es begann – wie kann ich es sagen. Es entstand in mir, wurde gehütet und niedergeschrieben.«
Trotz vieler glücklicher Momente jener Zeit, wie der Geburt der zweiten Tochter, Konzerterfolgen und Anerkennung in der Heimat wie im Westen, kommt in diesem Werk Rachmaninows grüblerisches, von häufigen Depressionen getrübtes Gemüt zum Ausdruck. Der die Wellen nachzeichnende, wiegende 5/8-Takt, unregelmäßig den Binnenakzent wechselnd, bestimmt die äußeren Abschnitte des Stücks, das ohne wirkliche Melodie oder Thema nur innerlich bewegte Klangfläche ist. In der changierenden Düsternis scheinen gelegentlich Lichter auf: ein Hornruf, eine Oboenklage, ein Hoffnungsschimmer der hohen Violinen. Doch unaufhaltsam schreitet das Schicksal voran, auch im Mittelteil mit seinem Flehen gegen das unerbittliche Fatum. In den Blechbläsern kündigt sich das »Dies irae«-Thema der lateinischen Totenmesse an, dessen vier erste Noten dann die Überleitung zur Wiederkehr der Anfangsstimmung prägen und das ganz am Schluss in den tiefen Streichern das letzte Wort behält.