Autor*in: Malte Krasting

Entstehungszeit: 1900-1905
Uraufführung: 24. Januar 1906 im Moskauer Bolschoi-Theater unter der Leitung des Komponisten
Dauer: 67 Minuten

»Kein größeres Leid, als sich erinnern in den Unglückstagen der guten Zeit.« Dies ist der zentrale Satz von Francesca und Paolo in Dantes Göttlicher Komödie. Zudem wirft die Geschichte elementare Fragen auf: Soll man seinen Leidenschaften ohne Rücksicht auf die Folgen nachgeben? Sind es eigene Entscheidungen oder die Umstände, die das Schicksal eines Menschen bestimmen? Den Autoren von Francesca da Rimini waren diese Themen nahe genug, um diese Oper zu schreiben. Beider Lieben widersprach den gesellschaftlichen Normen: Librettist Modest Tschaikowsky war, wie sein berühmter Bruder Peter, homosexuell, und Sergej Rachmaninow hatte entwürdigende bürokratische Prozeduren zu überwinden, bis er endlich seine Cousine heiraten konnte. Das Schicksal eines Paares, das für seine illegitime Leidenschaft erst mit dem Leben und dann mit ewiger Verdammnis büßen muss, hat ihnen offenbar viel bedeutet. Über fünf Jahre erstreckte sich die Arbeit an Francesca da Rimini, die Rachmaninow schließlich für sein Debüt als komponierender Kapellmeister am Bolschoi-Theater im Jahr 1906 fertigstellte. Die Episode um die junge, unglücklich verheiratete Francesca Malatesta, ihren Mann Lanceotto und dessen Bruder Paolo hatte ihm Modest Tschaikowsky vorgeschlagen und auf Rachmaninows Wunsch hin aufs Wesentliche gestrafft. Ein langer Prolog und ein knapper Epilog rahmen die eigentliche Handlung ein.

Der Anfangsteil schildert, wie der Dichter Dante, geleitet vom Schatten seines antiken Vorfahren Vergil, in die Hölle hinabsteigt, jenes in neun Höllenkreise aufgeteilte »Inferno«, das wie ein Trichter nach unten hin immer enger wird. Je größer ihre Schuld, desto mehr Qualen müssen die Toten ertragen; die Strafe entspricht jeweils der Sünde zu Lebzeiten. Rachmaninow zieht hier alle Register, das Orchester leidet und klagt, heult und rast, der Halbtonschritt ist allgegenwärtig als Intervall des Schmerzes, und der Chor summt mit geschlossenem Mund Vokalisen wie ein singendes Instrument: »Das war kein Gesang, das war ein tiefes Stöhnen«, hieß es in einer zeitgenössischen Kritik. Im zweiten Höllenkreis werden die Sünder der Wollust von rasenden Stürmen umhergewirbelt, Sinnbild der Stürme der Leidenschaft, denen sie sich im Leben hingegeben haben und denen sie nun auf Ewigkeit ausgeliefert sind. Dante befragt ein Paar nach seinem Schicksal, das die beiden – schattenhaft wie sie selbst im hohlen Gleichklang der Oktaven – am Ende des Prologs mit dem eingangs zitierten Satz andeuten.

Der Hauptteil blendet zurück ins dramatische Geschehen: Lanceotto, geplagt von Eifersucht, will seine Frau Francesca auf die Probe stellen. Dazu plant er, frühzeitig von einem Kriegszug zurückzukehren. Sein Monolog und das Gespräch mit Francesca sind die erschütternde Studie eines Mannes, dem seine Menschlichkeit entgleitet. Stets weiß das Orchester mehr als die handelnden Gestalten, verrät verhohlene Absichten und heimliche Gefühle; Francescas Leitmotiv leuchtet darin anmutig und hingebungsvoll hervor. Allein zu zweit, liest Paolo Francesca die Geschichte von Lancelot und Ginevra aus der Artus-Sage vor. Dort gibt sich die Frau dem Mann hin, wie Paolo es sich von Francesca wünscht. Francesca versucht die Glut zu sublimieren: Was uns jetzt verwehrt ist, erwartet uns im Himmel. Er aber will gegenwärtige Erfüllung, und ihr Widerstand schwindet dahin. Über rund 50 Takte erstreckt sich der vielleicht längste Kuss der Musikgeschichte, während sich das nahende Unheil ankündigt. Der sich anschleichende Gatte ersticht die Ehebrecher rücklings mit solcher Wucht, dass sein Dolch beide Leiber auf einmal durchbohrt. Der »Gespenstersturm« des Anfangs ertönt aufs Neue, das sterbende Paar singt noch den Satz »An jenem Tage lasen wir nicht weiter« und der Geisterchor beschwört ein letztes Mal das Leid, das durch entschwundenes Glück entsteht.