Entstehungszeit: 2019
Uraufführung: 6. November 2020 im Wiener Musikverein durch das ORF Radio-Symphonieorchester Wien; Dirigentin: Oksana Lyniv
Dauer: 18 Minuten
Das »Dies Irae« über den Jüngsten Tag ist nicht mehr Teil der katholischen Liturgie; die Vorstellung, dass Gott einst sein Strafgericht über die Menschheit halten werde, scheint der Kirche heute unzeitgemäß. Für Sofia Gubaidulina aber ist diese Idee essenziell: »Gott ist zornig. Er ist zornig, böse auf uns Menschen, auf unser Verhalten. Wir haben Schuld auf uns geladen.« Aus dieser Überzeugung ist Der Zorn Gottes entstanden. 2020 in Wien uraufgeführt, wurde das Werk mittlerweile durch einen Prolog erweitert, ist aber auch in der heute erklingenden Form eigenständig gültig. Zornig sei Gott darüber, dass unter den Menschen so viel Hass heranwächst, dass sie einander verfolgen und bekriegen, dass sie mit der Schöpfung verantwortungslos umgehen. Gubaidulina gibt dieser Mahnung eine Stimme. Das Orchester donnert nicht ungehemmt los, es droht mit überlegter Präzision: Straff schreiten tiefe Tonfolgen, schneidend im Klang und gespannt im Rhythmus schrauben sich die Motive allmählich hoch. Streckenweise werden die Gesten weicher, das Horn klagt, Holzbläser und Solovioline rühren an himmlische Sphären, aber man erwarte keine Versöhnlichkeit. Glocken und Tamtam stehen jederzeit bereit, das Ende einzuläuten. Die Komponistin widmet das Stück »dem großen Beethoven«, der in seinem letzten Streichquartett auf die selbst gestellte Frage »Muss es sein?« musikalisch mit »Es muss sein!« antwortet. Der Zorn Gottes aber ruft uns zu: »Nein, so darf es nicht sein!« Der Schlussakkord strahlt grell, Gottes Wort blendet – zur Erleuchtung allerdings ist es noch ein weiter Weg.