Entstehungszeit: 2004-2005
Uraufführung: 10. Oktober 2006 in der Bayerischen Staatsoper, München, durch das Bayerische Staatsorchester unter der Leitung von Kent Nagano, mit der Sopranistin Gabriele Schnaut
Dauer: 45 Minuten
Bei den Berliner Philharmonikern:
erstmals am 6. Dezember 2024 in der Philharmonie Berlin
Kann Musik eine politische Überzeugung transportieren? Wolfgang Rihms Antwort war eindeutig: »Wenn ich sagen würde, der Akkord in Takt 44 hat diese oder jene deutschland-historische Bedeutung, dann würden Sie doch sagen, der Mann spinnt.« Die Frage stellt sich in der Beschäftigung mit seinem Monodrama Das Gehege trotzdem. Die Vorlage bringt es mit sich, denn dem dritten Akt des Schauspiels Schlußschor, den Rihm in seiner »nächtlichen Szene« wortgetreu vertont hat, hat der Dramatiker Botho Strauß einen konkreten und geschichtsträchtigen Zeitpunkt gegeben: den 9. November 1989. Während sich für die DDR-Bürger die Grenzen öffnen, lässt Strauß seine Protagonistin Anita von Schastorf in einem Berliner Café Erkenntnisse über die eigene Herkunft gewinnen. Sie ist die Tochter eines von den Nazis hingerichteten deutschen Offiziers, dessen Widerstand in der historischen Rückschau ambivalent erscheint. Rihms Handlung von Das Gehege setzt mit der letzten Szene von Strauß’ Schlußchor ein: Anita folgt nicht den Massen auf den Straßen, sondern geht in den Zoo, wo sie tagsüber bereits einen alternden Adler beobachtet hat. Im nächtlichen Dunkel begibt sie sich wieder in dessen Nähe, spricht mit ihm, nimmt ein Messer aus der Handtasche und schneidet ein Loch in die Voliere. Der Adler nutzt den Moment der Freiheit allerdings nicht, worauf Anita beginnt, ihm erotische Avancen zu machen. Sie fordert das Tier heraus, reizt und verhöhnt es. Der Adler nähert sich Stück für Stück und stürzt sich schließlich auf sie. Doch ob er wirklich zur Attacke übergehen würde, bleibt offen. Anita tötet ihn.
1991 stellte Strauß mit seinem Schlußchor dem Jubel über die deutsche Wiedervereinigung eine düster-ironische Dystopie gegenüber. »Mich haben Text und Szene hingerissen«, gestand Rihm, der das Schauspiel 1992 erstmals auf der Bühne sah. »Die Frau ist plötzlich allein vor diesem Tier, das auch noch eine mythologische Uniform trägt. Ich musste weinen. Das war Theater, das bereits als Sprachform in Musik hineinwächst.« Als sich der Dirigent Kent Nagano 2006 zu seiner Amtseinführung als Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper von Rihm einen Einakter wünschte, der Richard Strauss’ Oper Salome vorgeschaltet sein sollte, entschied sich der Komponist für die Schlussszene von Schlußchor, weil dort eine Frau dargestellt wird, »die mit einem Adler in Beziehung tritt und ihn verzehrt, nachdem sie sich ihm erotisch in allen Lagen angeboten hat. Dieser Aspekt schien mir nicht so weit entfernt von der Salome-Figur, die ja auch das Objekt ihrer Begierde tötet«. Ihn interessierten, die »abgründigen Ambivalenzen«, die Das Gehege mit der Salome teilt: das verhängnisvolle Wechsel- und Zusammenspiel von Freiheit und Abhängigkeit.
Zwar spielt Rihm in seiner Vertonung mit musikalischen Versatzstücken, die auf Vergangenes deuten. Überzeichnete Marschrhythmik, schmachtende Walzerseligkeit, Beethovens Neunte und sogar das Deutschlandlied sind in die Partitur rätselvoll »hineingeheimnisst« (Rihm). Im musikalischen Vordergrund steht aber Anitas erotisiertes Machtspiel, in dem sie mal gurrt, mal begehrt, dann wieder spottet und provoziert. Dreimal wird dieses verstörende (Lust-)Spiel bei Botho Strauß von einem »Blackout« unterbrochen. Was währenddessen wirklich geschieht, lässt der Literat buchstäblich im Dunkeln. Rihm hat diese Leerstellen gefüllt: Hier macht er nicht nur die Flugbahnen des sich aufschwingenden Adlers hörbar, sondern vor allem die Eskalation, die Aggressivität, die Ekstase, in die sich Anita hineinsteigert, den blutigen Kampf und sein abruptes Ende. Nach der Tat kehrt beunruhigende Beruhigung ein, wenn Anita den Wald beschwört – das urdeutsche Symbol der Romantik.